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Obdachlos mit Einkaufswagen voll mit seinem Hab und Gut© Philip Arno Photography / Shutterstock.com

Obdachlosigkeit kann uns alle treffen

Jan Hünicke ist Obdachlosenseelsorger und in der Obdachlosenhilfe Dortmund tätig. Im Interview erzählt er, was er dort erlebt

Mit der Verpflichtung von Jan Hünicke im September 2022 bauen die Katholische Stadtkirche und die Caritas Dortmund gemeinsam die Obdachlosenhilfe und Obdachlosenseelsorge aus. Der 40-jährige Sozialarbeiter stammt aus Dortmund und war zuvor bei einem freien Träger in Köln in einer Einrichtung des ambulant betreuten Wohnens tätig, wo er psychisch Kranke, Suchtkranke und von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen betreute. Auf seiner neuen Stelle will sich um alle Menschen kümmern, die von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen sind, also auch um die Menschen, die ihre Situation vor anderen verbergen.

Redaktion

Herr Hünicke, Sie leisten Sozialarbeit und Seelsorge für obdachlose Menschen. Wie viele Obdachlose gibt es in Dortmund?

Jan Hünicke

Diese Zahl ist nicht bekannt. Von den knapp 600.000 Einwohnerinnen und Einwohner in Dortmund sind mindestens 600 obdachlos. Die Dunkelziffer ist enorm. Die Zahl der Wohnungslosen ist noch viel höher.

Redaktion

Woher kommt diese Unschärfe?

Hünicke

Zum Teil rührt sie von der fehlenden Datenlage her. In der Obdachlosenstatistik tauchen nur die Menschen auf, die als obdachlos bekannt sind, also im Hilfesystem erfasst oder OFW (Anmerkung der Redaktion: ohne festen Wohnsitz) gemeldet sind. Viele obdachlose Menschen erhalten aber keine staatliche Unterstützung, etwa weil sie aus dem Ausland stammen und keine staatliche Grundsicherung erhalten. Momentan kommen viele obdachlose Menschen als EU-Zugewanderte in die Stadt. Die Situation ist jedoch nicht ganz neu, aktuell aber nochmals brisant aufgrund der anderen großen Flüchtlingsströme. Die EU-Zugewanderten haben keinen Anspruch auf Leistungen und werden oft von dubiosen Arbeitgebern ausgebeutet. Hier gibt es in Dortmund einige gute soziale Projekte, die versuchen, die Menschen aufzufangen. Ein weiterer Grund für die statistische Unschärfe ist der große Graubereich zwischen der bürgerlichen Existenz auf der einen und der Obdachlosigkeit, dem Platte machen, auf der anderen Seite. Hier kommen wir in den Bereich der verdeckten Wohnungs- und Obdachlosigkeit.

Obdachlosenseelsorger Jan Hünicke

 

„Der Schlüssel in der Arbeit mit Obdachlosen ist immer das Vertrauen. Ich versuche das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, indem ich ihnen auf Augenhöhe begegne, ihnen zuhöre und immer ein offenes Ohr habe. […] Ich gehe an die einschlägigen Plätze, beispielsweise in der Nordstadt, in der City oder im Unionviertel. […] Ich begleite Menschen auf Behördengängen, helfe beim Papierkram.“

All das und vieles mehr bestreitet Jan Hünicke als Sozialarbeiter in der kirchlichen Obdachlosenhilfe und Obdachlosenseelsorge in Dortmund.

 

Redaktion

Was bedeutet verdeckte Wohnungs- und Obdachlosigkeit?

Hünicke

Verdeckte Obdachlosigkeit heißt für mich das Schlafen als Übergangslösung bei Bekannten, Freunden, Familienmitgliedern und Partnern. Also mal hier und mal da. Klar bedeutet es oft auch, eine Fassade aufrechtzuerhalten. In den großen Städten begegnen Sie und ich täglich Menschen, die keine Wohnung haben, nur sehen wir ihnen das nicht an, weder an der Kleidung noch am Aussehen oder am Verhalten.

Redaktion

Wie gewinnen Sie den Zugang zu den Menschen, wenn diese ihre Wohnungs- und Obdachlosigkeit verbergen?

Hünicke

Unabhängig davon, ob die Klientinnen und Klienten in offen ersichtlicher oder verdeckter Wohnungs- und Obdachlosigkeit leben, ob jung oder alt und egal welches Geschlecht: Der Schlüssel in der Arbeit mit Obdachlosen ist immer das Vertrauen. Ich versuche das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, indem ich ihnen auf Augenhöhe begegne, ihnen zuhöre und immer ein offenes Ohr habe. Das ist der erste und ein besonders wichtiger Schritt. Danach müssen die von Obdachlosigkeit betroffenen Menschen die Hilfsangebote kennenlernen und annehmen. Wenn sie gute Erfahrungen gemacht haben, gibt ein Teil der Klientinnen und Klienten diese positiven Erfahrungen an ihr Netzwerk weiter. Auf diese Weise kommen wir an auch an die Menschen heran, die in verdeckter Wohnungs- und Obdachlosigkeit leben. Vertrauensbildung ist ein langwieriger Prozess.

Redaktion

Wie findet der Erstkontakt statt?

Hünicke

Durch Streetwork. Ich gehe an die einschlägigen Plätze, beispielsweise in der Nordstadt, in der City oder im Unionviertel. Auch an den üblichen Anlaufstellen wie dem Café Wohl-Tun in der Amalienstraße, der Suppenküche Kana, dem Gast-Haus der ökumenischen Wohnungslosen-Initiative und dem Jordan-Treff am Franziskanerkloster lasse ich mich regelmäßig blicken, spreche mit den Menschen und biete meine Unterstützung an.

Redaktion

Welche Hilfsangebote haben Sie im Gepäck?

Hünicke

Hauptsächlich mein Wissen und meine Zeit. Obdachlosen, die neu in die Stadt sind, zeige ich, wo sie etwas zu essen bekommen, wo sie einen Schlafsack organisieren können, wo es Schlafstellen gibt, wo sie sich medizinisch behandeln lassen können. Ich begleite Menschen auf Behördengängen, helfe beim Papierkram. Deshalb habe ich in der Nordstadt, im Gemeindehaus von St. Josef, ein Büro, und biete meinen Klientinnen und Klienten Termine an. Natürlich helfe ich auch bei Gewalterfahrungen, denen Obdachlose häufig ausgesetzt sind. Das alles kann ich nicht allein stemmen und vermittle meine Klientinnen und Klienten an andere Hilfsorganisationen oder ehrenamtlich Engagierte. Vorausgesetzt, die Vertrauensbasis lässt das zu.

© Wirestock Creators / Shutterstock.com
„Platte machen“ ist nur eine Form von Obdachlosigkeit. Daneben gibt es die verdeckte oder versteckte Obdachlosigkeit. Auch ist Obdachlosigkeit nicht ausschließlich männlich. Etwa ein Viertel der Menschen, die auf der Straße leben, sind Frauen.
Redaktion

Welche Hilfsangebote für Obdachlose gibt es in Dortmund?

Hünicke

Zumindest in Teilen gibt es ein gutes und breites Angebot. Viele sind engagiert: die Stadt, die Kirche, Caritas und Diakonie, die anderen großen Sozialträger, dazu Initiativen und Vereine wie Bodo oder das Gast-Haus. Einige andere Streetworker sind ebenfalls auf den Straßen unterwegs und leisten tolle Arbeit. Auch die Kirchengemeinden vor Ort sind engagiert und bieten beispielsweise Sonntagsfrühstücke für Obdachlose in den Gemeindehäusern an. Die Malteser sind mit dem Herzens-Bus unterwegs. Man kümmert sich schon. Ein großes Problem ist aber, dass es zu wenige Schlafplätze in den Notunterkünften gibt. Auch der Wohnungsmangel generell ist ein großes Problem. Darüber hinaus gibt es Angebote, die Wege aus der Obdachlosigkeit öffnen, zum Beispiel Beratungsstellen für Suchterkrankte oder Initiativen, die bei der Wohnungssuche helfen. Das Kernproblem ist: Um diese Hilfsangebote wahrnehmen können, muss man organisiert sein. Wohnungs- und Obdachlose haben aber meist mit ihrer Situation so sehr zu kämpfen, dass sie bereits beim Wahrnehmen von Hilfsangeboten Hilfestellung brauchen. Das beschreibt meinen Job: Ich helfe Menschen, Hilfe anzunehmen.

Redaktion

Wir sprachen bisher ausschließlich über Sozialarbeit. Wie steht es um die Obdachlosenseelsorge?

Hünicke

Die Klientinnen und Klienten leben in absoluter materieller Not, daher stehen bei ihnen oft erst einmal die materielle Dinge im Vordergrund. Ein bisschen tiefer gegraben, wird bei manchen aber oft auch eine spirituelle Not sichtbar. In dem Zusammenhang leistet die Kirche einen wichtigen Beitrag, der gut angenommen wird. Gottesdienste für Obdachlose sind beispielsweise gut besucht. Auch mir ist es ein Anliegen, einen Blick auf die seelischen Nöte der Menschen zu haben.

Redaktion

Abschlussfrage: Was ist für Sie ein Erfolg?

Hünicke

Jeder organisierte Schlafsack und jeder vermittelte Schlafplatz ist ein Erfolg – und kein kleiner. Immerhin kann ein Menschenleben davon abhängen. Ein Erfolg kann es sein, wenn ich einer Ausreißerin, die noch nicht lange auf der Straße lebt und hier in Dortmund gestrandet ist, dabei helfe, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen. Oder wenn ich einen Klienten, der seit zehn Jahren Platte macht, davon überzeuge, einen Arzt aufzusuchen, damit der sich endlich den Ausschlag auf der Haut ansieht. Oft ist Obdachlosigkeit mit Sucht verbunden. Ein besonderer Erfolg ist es daher, wenn es mir gelingt, dass sich ein obdachloser Mensch seiner Sucht stellt und Hilfe sucht.

Redaktion

Was haben Sie in Ihrer Arbeit mit wohnungs- und obdachlosen Menschen gelernt?

Hünicke

Ich bin seit dem 1. September in diesem für mich neuen Bereich tätig, habe noch wenig Erfahrung und bin garantiert kein Experte. Aber ich lerne jeden Tag. Eine wichtige Lernerfahrung war: Obdachlosigkeit hat viele Ursachen und viele Gesichter. Krankheit, der Tod eines nahestehenden Menschen, Sucht, das Scheitern einer Beziehung, die Flucht aus einem Elternhaus, aus einer toxischen Beziehung oder aus einem Kriegsgebiet – es gibt vieles, das uns aus der Bahn werfen kann. Unsere bürgerliche Existenz ist längst nicht so stabil, wie wir uns das einreden. Obdachlosigkeit kann uns alle treffen, jede und jeden von uns.

1000 gute Gründe

© Erzbistum Paderborn

Für unseren Glauben, unsere Kirche und für unser Engagement sprechen 1000 gute Gründe. Und noch viele mehr. Es ist Zeit, von ihnen zu erzählen! Ohne etwas zu verschweigen oder schön zu reden. Sondern, indem wir auch das Gute wieder zur Sprache bringen und sichtbar machen, wie lebenswert und vielfältig unser katholisches Glaubensleben ist. In einer einladenden, konstruktiven Haltung möchten wir mit Menschen ins Gespräch kommen.

Wir möchten hören, was Sie im Leben und Glauben trägt – egal, ob Sie in der Kirche arbeiten, ob Sie engagiert sind oder ob Sie einfach neugierig auf unsere Themen und Angebote sind. Alle sind herzlich eingeladen, bei der Initiative „1000 gute Gründe“ mitzumachen. Denn je mehr wir sind, desto stärker ist unsere Stimme. Und umso stärker wird unsere Initiative, die in den kommenden Jahren und Monaten immer weiter wachsen wird.

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