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© Rokas Tenys / Shutterstock.com

„Europa, sei du selbst!“ Das denkt der Papst über Europa

Wer sind wir? Wo stehen wir? Und wo liegt die Zukunft Europas? Papst Franziskus schaut auf den europäischen Kontinent und die EU - mit Sorge und Faszination.

Papst Franziskus schaut mit Faszination und Sorge auf den pluralen Kontinent und seinen politischen Zusammenschluss von derzeit 27 Ländern zur EU. Wer sind wir? Wo stehen wir? Und wo liegt die Zukunft Europas? Wir beleuchten 5 Bilder, die der Papst zu Europa geprägt hat – theologisch eingeordnet durch Prälat Dr. Peter Klasvogt.

Er ist der erste Papst, der nicht aus Europa stammt. Zugleich liegen nicht nur seine geistigen, sondern auch seine familiären Wurzeln im Herzen Europas. In dieser einmaligen Kombination von Außenperspektive und Einblick spiegelt Papst Franziskus uns kritisch wie motivierend seinen Blick auf unseren Kontinent. Dazu hat er fünf große Europa-Reden gehalten. Einen langen Brief an Europa hat er verfasst. Und auch in seinen Büchern nimmt er immer wieder Bezug auf den vielgestaltigen Kontinent und seinen einzigartigen politischen Zusammenschluss von derzeit 27 Ländern zur Europäischen Union. Europa-Fachmann und Papst-Kenner Prälat Dr. Peter Klasvogt ordnet fünf seiner zentralen Thesen zu Europa ein, die Besorgnis erregen und zugleich Mut machen wollen.

Die alte Frau

Von mehreren Seiten aus gewinnt man den Gesamteindruck der Müdigkeit und der Alterung, die Impression eines Europas, das Großmutter und nicht mehr fruchtbar und lebendig ist.

Ansprache im Europaparlament in Straßburg, 25. November 2014

Was ist da los? Woran krankt Europa? „Franziskus diagnostiziert uns eine große Lethargie, und zwar Europa im Allgemeinen wie den Christen hier im Besonderen“, erklärt Klasvogt. „Denn wo der humanistische Geist abhandenkommt, läuft Europa Gefahr, ein ökonomisches und technokratisches Produkt ohne Seele zu sein.“ So wird Franziskus nicht müde, die sozialen und ökologischen Folgen aufzuzeigen, die eine verbreitete Konzentration auf das Ich mit sich bringt: Einsamkeit, Gleichgültigkeit, eine abhängte Jugend und einen alle planetaren Grenzen sprengenden Konsumismus. Eine Haltung der Angst mache sich breit, die Enge und Starre bewirkt statt jugendlicher Dynamik und Offenheit. Politisch macht er den Fokus auf das Eigeninteresse für die extremen populistischen und nationalistischen Tendenzen verantwortlich, wie sie in Europa länderübergreifend zu beobachten sind. Das große Friedens-Projekt, als das Europa einmal geboren wurde, tritt hinter innergesellschaftliche wie internationale Missverständnisse und Konflikte zurück. Der Mensch hinter die ökonomischen Zwecke und den bürokratischen Verwaltungsapparat, die ihm einst dienen sollten. Klasvogt: „Die große Frage, die Franziskus mit Blick auf Europas Identität verhandelt, lautet: Werteunion oder Wirtschaftsunion – Gemeinwohl oder mein Wohl?“ Als seelenloser Kontinent fehlt Europa Leben.

Das Fenster in die Zukunft

Europa, finde zu dir selbst! […] Fürchte dich nicht vor deiner jahrtausendealten Geschichte, die eher ein Fenster in die Zukunft als eines in die Vergangenheit ist.

Brief an den Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, 22. Oktober 2020

 

Das Werte-Vakuum, an dem Europa leidet, ist nach Franziskus aus einem „Gedächtnisverlust“ entstanden. Seine Therapie setzt darum auf die Vergangenheit, nicht als „Erinnerungsalbum“ betrachtet, sondern als Inspiration für die Zukunft fruchtbar gemacht. Pulsierendes Herz Europas müsse wieder der Mensch sein, und zwar im christlichen Sinne: in seiner unbedingten Würde, mit der ein Recht auf Freiheit und Gerechtigkeit einhergeht. Aus der Anerkennung der Person des Anderen ergibt sich auch das Ideal der Gemeinschaft. Sie hat die Kraft, Spaltungen zu überwinden, Dialog zu fördern, Frieden unter den Völkern zu ermöglichen, Inklusion und Solidarität zu stiften und den Blick für eine gemeinsame Zukunft zu öffnen. Dieses christliche Menschenbild, entstanden in einem über 2000-jährigen Reifungsprozess und in einem Europa, das Träger von Kunst und Wissenschaft ist, hat sich in der Grundrechtcharta der EU niedergeschlagen. „Franziskus schätzt diese europäische Kultur und ist von ihrem Idealismus fasziniert“, so Peter Klasvogt. Auch von dem innovativen Weg, wie sich Europa nach zwei Weltkriegen für einen dauerhaften Frieden eingesetzt hat. „Dabei ist die Balance zwischen Einheit und Freiheit, der Würde des Einzelnen und dem Gemeinwohl fundamental für die Christen wie für Europa.“ Klar sei: „Wir müssen keine neuen Werte erfinden, sondern die alten nur wiederfinden und vor allem beleben.“

© BLUR LIFE 1975 / Shutterstock.com
© BLUR LIFE 1975 / Shutterstock.com

Ein Haus der Völkerfamilie

In Wirklichkeit lebt jede authentische Einheit vom Reichtum der Verschiedenheiten, die sie bilden: wie eine Familie, die umso einiger ist, je mehr jedes ihrer Mitglieder ohne Furcht bis zum Grund es selbst sein kann.

Ansprache im Europaparlament in Straßburg, 25. November 2014

Wie jede Familie setzt die Gemeinschaft der EU Einheit voraus, aber keine Uniformität. Eine politische, wirtschaftliche, kulturelle und gedankliche Verschiedenheit bereichert nach Franziskus die Solidargemeinschaft und trägt dazu bei, anstehende Probleme geschwisterlich zu lösen, indem jedes Mitglied seine Stärken einbringen kann. Es muss also um Integration statt Exklusion gehen, um Dialog und Begegnung statt um das Ziehen und Verteidigen von Grenzen. Das mahnt der Papst auch mit Blick auf die Flüchtlingskrise an. Dazu brauche es ein Bewusstsein der eigenen Identität, auf dessen Grundlage Europa mit Bewerbern um den EU-Beitritt offen ins Gespräch gehen und sich auch Ländern, aus denen viele Menschen emigrieren, gegenüber solidarisch und gastfreundlich zeigen kann. Auch seine Erinnerung an die weiße Flagge in einem Interview zum Krieg in der Ukraine zeigt: Es gilt, alle (annehmbaren) Möglichkeiten auszuschöpfen, um ein friedliches Miteinander zu schaffen. Dabei baue jeder mit am „gemeinsamen Haus“, greift er ein Bild Johannes Pauls II. auf. „Hier setzt auch der synodale Prozess an, der von der Idee lebt, miteinander unterwegs zu sein. Über den Dialog im Rahmen der Kontinentalsynoden legen wir als Christen unseren gemeinsamen Grund und unser Ziel frei. Aber auch in anderen Kulturen und Religionen außerhalb Europas brauchen wir Verbündete zur Stärkung der Menschengemeinschaft“, erläutert Klasvogt, wie dieses gemeinsame Haus entstehen kann.

Unser Erbe für die Welt

Die Originalität Europas liegt vor allem in seinem Menschenbild und in seiner Weltsicht, in seiner Fähigkeit Initiativen zu ergreifen und in seiner praktischen Solidarität.

Brief an den Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, 22. Oktober 2020

 

Welche Rolle kann Europa angesichts globaler Machtverschiebungen und neuer wirtschaftlicher Großmächte in Zukunft noch spielen? Weder in einer geopolitischen noch in einer ökonomischen Vorherrschaft wird unsere Zukunft nach Franziskus liegen. „Die Menschenrechte und die Gemeinwohlorientierung, die liberale Demokratie und die soziale Marktwirtschaft als Exportschlager: Wenn wir unsere Essentials stark machen, die Europa hervorgebracht hat, können wir als prophetische Stimme in die Welt hineinwirken“, sagt Klasvogt. Unser geistiges Erbe hält der Papst für so einzigartig und wertvoll, dass es sich lohnt, in der Welt leidenschaftlich dafür zu werben. „Gegen einen globalen Süden, der sich mehr und mehr von Europa abkapselt, und das alle Dynamik beherrschende Motto ‚Economy first‘ können wir nur eine Formation der Haltung setzen und damit Personen, die im europäischen Geist geprägt sind“, so Klasvogt. Hier wird Papst Franziskus konkret: Erziehungs- und Bildungsaufträge ernst nehmen, menschenwürdige Arbeitsbedingungen schaffen, die auch jungen Menschen eine Perspektive geben, Kultur und Wissenschaft fördern.

© corgarashu / Shutterstock.com
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Die Hefe der Christen

Die Christen haben heute eine große Verantwortung: Wie die Hefe im Teig sind sie aufgerufen, das Bewusstsein für Europa wiederzuerwecken, um Prozesse anzustoßen, die neue Dynamiken in der Gesellschaft erzeugen.

Brief an den Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, 22. Oktober 2020

Welchen konstruktiven Beitrag können die Christen in unserer pluralen, weitgehend säkularen Gesellschaft zur Zukunft des Kontinents spielen? Franziskus ist überzeugt: In einem Europa, das seine gute Seele verloren hat, sind sie es, die sie wiederentdecken können und sollen. Darum träumt er von einem Kontinent, der offen ist für Transzendenz und reich an Zeugen des Evangeliums. „Franziskus ist stark von der katholischen Soziallehre geprägt. Er ruft dazu auf, Verantwortung zu übernehmen, gemeinsam mit Verbündeten zu gestalten, sich als Christ aktiv einzubringen. Zum ersten Mal wird ein Papst so konkret“, zeichnet Klasvogt das Bild von einem Mann, der Veränderung will und anpackt. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter sei dabei Dreh- und Angelpunkt seiner Theologie. Wie der Samariter hält er an bei den Schwächsten und Übersehenen, nimmt wahr, begibt sich ins Leid des Anderen hinein und schafft so eine gemeinsame Zukunft. So kann Franziskus auch uns in Europa ein Vorbild sein.

Die Ansprache im Europaparlament in Straßburg vom 25. November 2014 finden Sie auf www.vatican.va.

Den Brief an den Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin vom 22. Oktober 2020 finden Sie ebenfalls dort.

Prälat Dr. Peter Klasvogt

Prälat Dr. Peter Klasvogt ist Direktor des Sozialinstituts Kommende Dortmund und der Katholischen Akademie Schwerte. Er ist unter anderem Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung „socioMovens. Giving Europe a Soul e.V.“. 2017 erhielt er den Konstanzer Konzilspreis für „seinen sozialethischen Dialog in Europa“.

Ein Beitrag von:
© privat
Freie Autorin

Dr. Carina Middel

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