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Erzbistum Paderborn
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„Das Gewissen ist die lichtvollste Instanz für den Aufbruch“

Ein Gespräch mit Monsignore Martin Reinert über äußere und innere Aufbrüche, über Fluchten und das Scheitern, über Moses, den verlorenen Sohn und die Evangelien als Begleitungsgeschichte

Monsignore Martin Reinert ist in der Abteilung „Glauben im Dialog“ des Erzbischöflichen Generalvikariats Paderborn tätig. Der Aufgabenschwerpunkt des 63-Jährigen liegt in der Geistlichen Begleitung. Diese Form der Beratung durch die Kirche steht allen Menschen offen. Sie ist kostenlos und dient dazu, persönliche Lebensfragen im Kontext des Glaubens zu betrachten, um diese besser bewältigen zu können. Auch Fragen der Berufung werden im Rahmen von Geistlicher Begleitung erörtert.

Im Gespräch mit Monsignore Reinert über Aufbrüche

Redaktion: Monsignore Reinert, lassen Sie uns über Aufbrüche sprechen. Was verbinden Sie mit dem Begriff?

Monsignore Martin Reinert: Die Geistliche Begleitung zielt darauf, eine Situation zum Guten zu verändern. Ich habe in meiner Tätigkeit mit vielfältigen Aufbrüchen zu tun. Es gibt gelungene und gescheiterte Aufbrüche. Es gibt verschobene Aufbrüche, für die noch nicht genügen Kraft da ist. Und es gibt im Gegensatz dazu verschollene Aufbrüche, bei denen das Neue eine Verlockung darstellt. Dieses verlockende Neue muss nichts Materielles sein. Gerade wenn Menschen beginnen, ihre Beziehung zu Gott oder ihre Berufung entdecken, hat das häufig eine starke Sogwirkung. Meine Aufgabe ist es, Menschen so zu begleiten, damit sie sprachfähig werden, also die richtigen Worte finden, um ihre Situation und die ihres möglichen Aufbruchs zu beschreiben.

Redaktion: Wie lassen sich diese Worte finden?

Msgr. Reinert: Ein besonders geeignetes Mittel dafür ist, Personen in der Bibel und insbesondere in den Evangelien aufzuspüren, die für uns eine bestimmte Situation lesbar machen. Jesus hat in seinen drei Jahren als Prediger nichts anderes gemacht, als Aufbrüche zu ermöglichen und zu begleiten. Die Evangelien sind eine einzige Begleitungsgeschichte.

Redaktion: Zum Thema Aufbruch in der Bibel fällt mir spontan etwas Alttestamentarisches ein: das Buch Exodus, die Moses-Geschichte vom Auszug der Israeliten aus Ägypten. Welche biblische Erzählung steht für Sie zentral als Geschichte des Aufbruchs?

Msgr. Reinert: Mein Zugang ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukasevangelium. Dieser Sohn, der Zweitgeborene, ist ein Tunichtgut oder ein Traumtänzer. Er lässt sich sein Erbe auszahlen, geht ins Ausland und haut das gesamte Vermögen auf den Kopf. Er stürzt komplett ab. In diesem Scheitern liegt übrigens eine Parallele zu Moses, der vor dem Aufbruch ebenfalls abstürzt, alle Privilegien verliert und sogar zum Mörder wird. Der verlorene Sohn muss sich nach seinem Scheitern als Schweinehirt verdingen, also unreine Tiere hüten. Er steht auf der untersten Stufe der Gesellschaft und bekommt nicht einmal mehr das Viehfutter zum Essen. Da fängt er an nachzudenken und sich seiner Situation bewusst zu werden. Und dann spricht er diesen wunderbaren Satz: „Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.“ Dieser Aufbruch, der eine Umkehr und Rückkehr darstellt, ist dem verlorenen Sohn bestimmt nicht leicht gefallen.

Redaktion: Mein Vater wäre in dieser Situation nicht zimperlich mit mir umgegangen. Hätte ich nur mein eigenes Geld verblödelt, wäre er mir vielleicht noch gnädig gewesen. Aber ich will mir nicht vorstellen, wie er auf die Nachricht des verzockten Erbes reagiert hätte…

Msgr. Reinert: Ja, die meisten irdischen Väter wären in dieser Situation sicher ungehalten. Das gilt zu jeder Zeit, im 21. Jahrhundert wie zu Lebzeiten Jesu, der natürlich darum wusste, wie ein Vater normalerweise auf dieses Verhalten seines Sohnes reagiert. Das Außergewöhnliche an diesem Gleichnis ist nun, dass der barmherzige Vater dem verlorenen Sohn nicht nur eine Gnade erweist, sondern ihn freudig wieder bei sich aufnimmt. Auch beschützt der Vater den heimgekehrten zweitgeborenen Sohn vor den Anschuldigungen des erstgeborenen Sohnes, der immer rechtschaffen geblieben ist. Dieser Sohn ist ebenfalls eine interessante Figur mit tiefer Bedeutung. Der rechtschaffene Sohn kennt und braucht die Barmherzigkeit des Vaters nicht, unabhängig davon werden beide Söhne gleich geliebt.

Redaktion: Sie sprachen das Scheitern an. In beiden Geschichten, im Buch Exodus und im Gleichnis vom verlorenen Sohn, kommt es zeitlich vor dem Aufbruch und bedingt diesen. Muss man vor einem Aufbruch erst ganz am Boden sein? Ist der Aufbruch damit nicht gleichbedeutend mit der Flucht aus unbefriedigenen Verhältnissen?

Msgr. Reinert: Wie der Kampf oder Wegducken ist die Flucht ein Überlebensmechanismus, eine wichtige psychische Ressource im Konflikt. Ist die Bedrängnis extrem groß, bleibt am Ende oft nur die Flucht. Aber Flucht ist etwas gänzlich anderes als Aufbruch. Flucht ist nicht autonom, sondern Reaktion. Im Unterschied dazu ist Aufbruch ein verantwortetes Handeln, eine Aktion, die einen mehrstufigen Prozess durchläuft. Zuerst verschaffe ich mir Klarheit über meine Situation und ergründe meine Rolle darin und meine Verantwortung. Idealerweise mache ich das, bevor ich am Ende bin. Aber die Geschichten aus der Bibel zeigen, dass ein Aufbruch selbst dann noch möglich ist, wenn ich ganz unten angekommen bin. Wenn ich meine Situation vor mir selbst erkannt habe, egal wie schlimm sie ist, bin ich im nächsten Schritt dazu fähig, Ziele und Handlungsoptionen zu entwickeln und die Folgen meines Handelns oder Nichthandelns gegeneinander abzuwägen. Auch sollte ich mich in dieser Phase fragen, wer mir bei meinem Aufbruch helfen kann. Diese Möglichkeit ziehen viele Menschen gar nicht in Betracht, dabei ist Hilfe etwas ganz Wesentliches, wenn der Aufbruch gelingen soll. Es ist eine besondere Leistung und ein Verdienst unserer Kirche, dass wir den Menschen seit 2000 Jahren diese Form der Hilfestellung anbieten.

Redaktion: Bevor es zum Aufbruch kommt, heißt es, die Dinge abzuwägen. Aber: Je länger man sich mit einer Situation arrangiert hat, desto schwieriger wird es oft, sich aus ihr zu lösen. Wie erkenne ich den richtigen Zeitpunkt für den Aufbruch, damit dieser nicht zur kopflosen Flucht wird?

Msgr. Reinert: Ein Aufbruch kostet immens Kraft und braucht Zeit. Vieles muss bedacht werden. Doch der Verstand ist als Kraftquelle viel zu schwach für einen Aufbruch. Der Aufbruch braucht die innere Zustimmung. Diese kommt aus dem Herzen, sie kommt vom Gewissen. Das Gewissen ist die lichtvollste Instanz für den Aufbruch. Den richtigen Zeitpunkt für den Aufbruch finde ich heraus, wenn ich mir die Kernfrage stelle: Kann ich meine gegenwärtige Lebenssituation mit meinem Gewissen vereinbaren? Diese Frage für sich allein genommen wäre aber egoistisch. Es muss sich eine zweite Fragestellung anschließen: Welche Auswirkungen wird mein Aufbruch haben und kann ich diese Folgen mit meinem Gewissen vereinbaren? Will ich das wirklich?

Redaktion: Sind Aufbrüche damit Zeugnis von Reifeprozessen?

Msgr. Reinert: Ja. Das Leben junger Menschen ist voll von verschiedenen äußeren Aufbrüchen. Es geht hinaus ins Leben, in einen Beruf oder eine Berufung, in Ehe und Familie oder bei mir ins Leben als Priester. In meiner Tätigkeit in der Geistlichen Begleitung erlebe ich oft, dass es oft Menschen in der zweiten Lebenshälfte sind, die nochmals vor einem Aufbruch stehen, diesmal aber einem inneren Aufbruch. Diese Menschen fragen sich nun, ob ihr Leben oder ihr Glaube sie in die Freiheit geführt hat. Wenn sie die Gewissheit haben, dass ihr Leben auf eine andere Weise besser gelingt, sind sie auch noch im vorgerückten Lebensalter bereit für Veränderungen.

Redaktion: Wir haben viel über die Beweggründe von Aufbrüchen erarbeitet, aber offengelassen, wohin die Reise gehen soll. Wo liegt das gelobte Land? Wie sollen die Menschen in etwas aufbrechen, wenn es ihnen unbekannt, überwältigend groß und fremd erscheint?

Msgr. Reinert: Wäre das Ziel der Reise bekannt, wäre es kein Aufbruch, sondern nur eine beliebige Ortsveränderung. Nein, Aufbruch ist schon etwas Größeres. Zum Aufbrechen gehört der Mut, sich auf etwas einzulassen, auch wenn wir es nicht erfassen können.

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