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Morgenandachten im Deutschlandfunk

Morgenandachten im DLF-Rundfunk vom 13. bis 18. Januar 2020 von Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg

Morgenandachten im DLF
13. – 18. Januar 2020
Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg

Was ist christliche Politik?

Gibt es eigentlich eine christliche Politik? Der Begriff der Politik ist im Kern ein typisch europäisches Wort. Es geht nämlich zurück auf die Philosophie der frühen Griechen, die etwa ab dem 7. Jahrhundert vor Christus von der „polis“, dem Stadtstaat sprachen. Daran erinnert übrigens noch heute unser Wort Polizei. Was meinten jene griechischen Philosophen denn eigentlich mit solch einem Stadtstaat, mit der „polis“? Gedacht war an einen gemeinsamen Wohnraum höchst unterschiedlicher Menschen. Diese verstanden sich nicht mehr einfach als Sippe oder Großfamilie, durch Blutsbande mehr oder weniger gezwungen zum Zusammenleben, sondern als durch freien Entschluss zusammen wohnend. Freiheit ist also das große Schlüsselwort: Es werden gemeinsame Vorstellungen und Überzeugungen entworfen mit dem Ziel eines gemeinschaftlichen guten Lebens.

Noch etwas kommt hinzu: Stand am Anfang dieser „europäischen Achsenzeit“ noch der Begriff der Ehre als letztes Ziel eines guten menschlichen Lebens im Vordergrund, so weicht dieser allmählich dem Wert der Tugend. Jetzt nämlich steht das gute Leben schlechthin im Mittelpunkt des Zusammenlebens. Das Ziel des menschlichen Lebens und der „polis“ ist das gute und rundum gelungene Leben eines jeden Menschen. Dafür prägen die griechischen Philosophen den Begriff der „eudaimonia“, in dem tatsächlich das deutsche Wort Dämon zu finden ist. Ursprünglich bedeutete Dämon einfach nur „Geist“. Das vollkommen gelungene Leben ist also ein Leben, das von einem wirklich guten inneren Geist, von Glückseligkeit und Beglückung geprägt ist. Das ist ein Glück, das nicht zufällig wie ein Lotteriegewinn dem Menschen zufällt, sondern das ganz im Gegenteil durch die Tugend erworben und eingeübt werden kann – also durch moralische Tüchtigkeit. Denn auch das deutsche Wort Tugend weist wieder hin auf das eigentlich bei den Griechen Gemeinte: Tauglich muss ein Leben sein für das letzte Ziel, tauglich wie ein Handwerkszeug zum Erreichen eines Kunstwerkes, tauglich in Tugend und Haltung, damit ein umfassendes Glück erreicht werden kann und nicht bloß ein oberflächliches Glücksgefühl, das schnell vergeht.

Die jüdisch-christliche Tradition nun füllt diese Vorstellung vom umfassend geglückten und gelungenen Leben mit der Vorstellung von vollendeter Liebe. Vollkommene Gutheit wird jetzt als vollkommene und unbedingte Liebe Gottes definiert. Unbedingt meint, dass die Liebe Gottes nicht abhängig ist von Bedingungen wie einer Leistung, der Intelligenz oder des guten Benehmens. Liebe heißt: Geliebt werden, ohne lieb sein zu müssen! Diese vollkommene Liebe begegnet dem Menschen in der Person Gottes, in Jesus Christus, und befähigt wiederum den Menschen zur Antwort der Liebe. Erst diese Liebe, so der christliche Glaube, bringt das wahre Glück. Sie ist freilich auch immer mit Opfer und Verzicht verbunden. Das ist ganz im Sinn der sokratischen großartigen Einsicht: „Lieber Unrecht erleiden als Unrecht tun!“ Darin unterscheidet sich Liebe vom bloßen Tauschgeschäft.

Es geht also nicht mehr nur um die bloße Gestaltung von unterschiedlichen Interessen oder Zweckgemeinschaften. Aus christlicher Sicht ist das letzte Ziel einer jeden gerechten Politik darum die Gemeinschaft der Liebe und Freundschaft von Menschen zueinander. Gerade deswegen ist es christliche Überzeugung, dass Ehe und Familie Keimzelle des Staates sind. Solche Liebe aber wird vorbereitet durch Gerechtigkeit. Eine immer verbesserungswürdige soziale Gerechtigkeit, um so schrittweise zu mehr Liebe unter den Menschen zu gelangen. Darin genau liegt das Ziel eines jeden Menschen von Natur aus, christlich gesprochen: von der Schöpfung aus. Deswegen kann geradezu von einem Menschenrecht auf unbedingte Liebe gesprochen werden. Um dieses Recht aber darf kein Mensch zu irdischen Lebzeiten betrogen werden – das ist die eigentliche Aufgabe und das letzte Ziel der Politik und des Staates!

Was ist Menschenwürde?

Fast täglich ist die Rede von Menschenrechten. Dabei sind allerdings fast immer zwei Missverständnisse festzustellen.

Erstens verengt sich sehr häufig der Blick auf das einzelne Individuum und sein Recht. Natürlich hat der einzelne Mensch Rechte, die unabhängig vom Staat und von der Gesellschaft feststehen. Ja, die sogar unabhängig von demokratischen Mehrheiten zu schützen sind. Aber genauso entsprechen solchen Rechten auch Pflichten, und Menschenrechte verpflichten immer den einzelnen Menschen. Denn wer sein eigenes Menschenrecht beansprucht, muss immer auch zugleich auf die Rechte der anderen Menschen schauen und sie respektieren. Jeder Mensch hat von Natur aus kraft seiner Vernunft die Einsichtsfähigkeit, dass jeder menschlichen Person prinzipiell und grundlegend die gleichen Rechte zukommen, wie man sie für sich selbst als Person wünscht. Diese allererste ethische Basis ist in fast allen Hochkulturen zu finden in der Form der so genannten Goldenen Regel: „Handle so, wie auch Du behandelt werden möchtest!“ Und auf diesem festen Fundament fußen dann alle weiteren ethischen Normen und Festlegungen. Es sind bei Licht besehen immer Rechte auf Freiheitsräume: Das Recht auf Leben, der körperlichen Unversehrtheit, der Meinungsäußerung, der Bewegungsfreiheit, der Ehe und Familie, der Religion. Hinzu kommen dann so genannte Anspruchsrechte: Recht auf Arbeit, auf Gesundheit, auf Bildung, auf gleiche Behandlung vor dem Gesetz. Und genau hier, im Feld der Ansprüche einer jeden Person, da tritt der Staat auf den Plan. Denn ihm obliegt es gleichsam als Anwalt zumal der schwächeren Personen solche Ansprüche in die Wirklichkeit umzusetzen.

Im Hinblick auf die Menschenrechte gibt es ein zweites häufiges Missverständnis: Oft ist die Rede von Menschenrechten, ohne dass genügend deutlich wird, aus welcher Quelle diese Rechte denn entspringen. Der große deutsche Philosoph Immanuel Kant sagt sinngemäß: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das nicht allein Wert und Preis hat, sondern Würde! Damit wird an die griechische Philosophie erinnert, die von der Schönheit der menschlichen Seele spricht. Das römische Recht übersetzte diesen Begriff der inneren Schönheit eines jeden Menschen mit „Würde“: Gemeint ist eine letzte, nicht hintergehbare Grundeigenschaft des Menschen als Person, die allen anderen Eigenschaften vorausliegt. Würde ist dabei nicht gebunden an äußere überprüfbare Qualitäten wie Leistung, Bewusstsein, Intelligenz oder Ansehen. Würde ist vielmehr die erste Voraussetzung einer Ethik vom Menschen, eines Nachdenkens über den Menschen. Wer über den Menschen nachsinnt, der tut dies auf der Grundlage der unbestrittenen Unantastbarkeit und Liebenswürdigkeit jeder menschlichen Person.

Nochmal anders gesagt: Die Schönheit und Liebenswürdigkeit eines Menschen und seines Lebens wird nicht hinterfragt, schon gar nicht nach seinem Nutzen für die Gesellschaft. Einfach weil der Mensch gezeugt und geboren wurde, darf er bis zum letzten biologischen Augenblick seines Lebens nicht fehlen. Einfach weil er da ist, begehren ihn alle anderen Menschen. Die Rede von der Würde verbürgt jeder menschlichen Person die unbezweifelbare Gewissheit, sich niemals der grauenhaftesten Frage aller Fragen stellen zu müssen: Ist es wirklich gut, dass es dich gibt oder mich gibt?

Das und nur das darf im Staat und im mitmenschlichen Zusammenleben überhaupt nie in Frage gestellt werden. Selbst wenn es sich erwiesenermaßen um einen Schwerverbrecher handeln würde. Das zeigt das strikte Verbot der Todesstrafe in unserem Staat. Das bildet auch die Grundlage unserer Kultur: zu wissen, dass es unbedingt gut ist, dass jeder Mensch da ist!

Was trägt die Demokratie?

Wir leben bekanntlich in einer Demokratie, besser und genauer: in einem demokratischen Rechtsstaat. Was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Wortungetüm? Gibt es in unserer Demokratie Grundwerte, vielleicht sogar so etwas wie eine Leitkultur? Was sind die unaufgeklärten Grundlagen unserer demokratischen Rechtsordnung?

Die politische Auseinandersetzung mit der AfD und einigen ihrer populistischen Wortführer sind gute Beispiele für die klärende Debatte um eine demokratische Leitkultur. Aber auch ganz anders gelagerte Diskussionen etwa um die Weiterentwicklung von Hartz IV oder eine mögliche Grundsicherung für Kinder. Besonderes Augenmerk wird verlangt, wenn schwächere Mitglieder unserer Gesellschaft dauerhaft benachteiligt oder übersehen werden. Auch die notwendigen Diskussionen um die Abtreibung und ein diesbezügliches Werbeverbot oder um die assistierte Sterbehilfe oder um die Organtransplantation sind dafür gute Beispiele. All das betrifft ja Grundfragen des menschenwürdigen Zusammenlebens und eine gemeinsame verpflichtende Kultur.

Formulieren wir einmal so. Demokratie ist der Zustand, in dem jeder jedem eine Frage stellen darf! Das heißt: Demokratie ist zunächst eine Form, über den Inhalt ist damit noch nichts gesagt. Es geht um Fragen. Welche Antworten erwünscht sind, erweist dann die Debatte und schließlich die Abstimmung. Die Blumenvase, die Kuchenform, die Obstschale, der Trinkbecher: alles sind Formen, geeignet, um verschiedene Inhalte, gute und schlechte, Weißwein oder Schierlingsgift, aufzunehmen. Andererseits ist die Form in jedem Fall ein verheißungsvoller und guter Beginn: Gewaltenteilung und Wahlrecht sind dafür gute Beispiele. Die Form ist nicht alles, aber ohne die Form ist alles nichts!

Die Demokratie ist solch eine Form, wie der Trinkbecher eben: Ob Wasser oder Wein oder Gift darin enthalten ist, das muss in freier Debatte je neu entschieden werden, aber auf der Grundlage der einmal gegebenen Verfassung, unseres Grundgesetzes. Dazu gibt es im Grundgesetz sogar die Ewigkeitsgarantie, das heißt: die Grundrechte und die parlamentarische Staatsform dürfen in alle Ewigkeit nicht angetastet werden, weil die in Artikel 1 Genannte Würde des Menschen nicht angetastet werden darf. Der Sündenfall des Ermächtigungsgesetzes von 1933 steht warnend im Hintergrund. Man kann hier sogar vom Naturrecht sprechen: Von Natur aus kommen jedem Menschen Würde und Leben und Schutz zu und dürfen niemals eingeschränkt werden.

Mehrheiten allein sind keineswegs schon Garantien für Wahrheit und Recht: Sie können manipuliert werden und können irren. Wenn nämlich alles im Staat gleich gültig ist, was wechselnde Mehrheiten beschließen, dann ist am Ende alles buchstäblich gleichgültig und nur noch von relativen Mehrheiten abhängig.

Das nennen wir Populismus: Mehrheit ohne Grundwerte und ohne Grundüberzeugungen. Und gerade deswegen braucht es in jeder Demokratie als Rechtsstaat nicht bloß alle vier oder fünf Jahre die Abgabe der Stimme, sondern es braucht jeden Tag die mündige Stimme von uns allen, die den Mut zum eigenen Verstand und zum eigenen Nachdenken auch jenseits der Stammtische hat, wenn der politische Inhalt der Demokratie mehr einem schleichenden Gift als dem Wasser des Lebens zu gleichen beginnt!

Was ist Europa?

Gibt es eigentlich ein christliches Abendland? Das bezweifeln ja inzwischen sogar manche katholischen Bischöfe … Oder ist der bessere und zielführendere Begriff Europa?

Verbindet sich mit diesem Europa ein roter Faden von Grundüberzeugungen, ein stabiles Haus mit vielen Wohnungen für verschiedene Mentalitäten und doch auf gemeinsamem Fundament erbaut und unter einem Dach geteilter Grundüberzeugungen?

Man kann mutig versuchen, auf diese Frage aus christlicher Sicht zu antworten. Sicherlich ist Europa als Idee nicht einfach identisch mit dem Christentum. Denn das ist ja auch nicht eines Tages überraschend vom Himmel gefallen, sondern langsam erwachsen aus der jüdischen Überlieferung und dem israelitischen Glauben an Jahwe. Dazu ist die typisch griechisch-römische Idee der menschlichen Person und ihrer unsterblichen Seele gekommen, als Grundlage und Kern jeder menschlichen Gemeinschaft. Wenn man aber einen Begriff wählen müsste, um dieses Europa und seine Idee vom Menschen und vom friedlichen Zusammenleben zu kennzeichnen, so könnte man wohl in der Tat am besten den Begriff der Person nennen. Hier scheint sich die wesentlichste Grundüberzeugung der europäischen Kultur und Geschichte zu bündeln: Jeder Mensch ist mehr als seine Eigenschaften und Funktionen, ja er ist grundsätzlich weit mehr als nur ein austauschbarer Komparse auf der Theaterbühne des Lebens. Vielmehr meint Person seit der altgriechischen Zeit des Theaters: Hinter den verschiedenen Rollen und Funktionen im Leben verbirgt sich ein menschliches Wesen.

Dieser Begriff von Person und Personalität hat dann sogleich moralische und rechtliche Verantwortung zur Folge. Denn die menschliche Person schuldet sich und jeder anderen Person Achtung und Respekt und Wohlwollen, mehr noch: Der Mensch kann gar nicht leben ohne den Willen zur Liebe und zur Freundschaft gegenüber den Mitmenschen. Hier wird dann schon die christliche Überzeugung gestreift, dass der Mensch nicht einfach ein zufälliges Produkt der Evolution ist oder bloß ein Konkurrent mit menschlichen Mitbewerbern um den besten Platz an der Sonne. Sondern dass der Mensch sein letztes Ziel und seine letzte Erfüllung in der vorbehaltlosen Liebe zum Mitmenschen findet. Und mehr noch: Dass jeder Mensch vom Wesen her, als Ebenbild Gottes, zutiefst liebenswürdig und lebenswürdig ist und darin genau seine unantastbare Würde begründet ist.

Die katholische Soziallehre bündelt ihr Nachdenken über eine gute und gerechte Ordnung des Zusammenlebens von Menschen in den vier grundlegenden Prinzipien von Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl. Vielleicht darf man sogar mit Recht in diesen vier Prinzipien vier Ecksteine des Hauses Europa sehen. Denn die betonte Personalität des Menschen führt fast automatisch zur Pflicht der Solidarität, gerade mit den Schwachen und Ausgegrenzten. Dies wiederum führt zum Recht auf Subsidiarität, also zum Recht, dass schon kleine Zellen des Zusammenlebens, Hilfe und Unterstützung von der höheren Ebene im Staat zu erhalten haben. Und das Prinzip des Gemeinwohles, modern ergänzt in Zeiten des Klimawandels um das Prinzip der Nachhaltigkeit, betont das uralte Ziel der Gerechtigkeit. Dass die menschliche Person Vorrang hat vor dem Kollektiv und vor dem Staat und zugleich aber sich nicht selbst genügt in ihrer Individualität, sondern vollkommene Erfüllung erst findet in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, in Freundschaft und Liebe – das genau ist vermutlich eine maßgebliche europäische Grundüberzeugung.  Das Christentum, dem Europa so viel verdankt, bündelt diese Überzeugung im Glauben an Jesus Christus: Der unbekannte Gott offenbart sich in eigener Person und offenbart damit zugleich dem Menschen sein letztes Ziel: vollkommene ewige Liebe!

Was bedeuten Ehe und Familie?

Im Jahre 1979 war in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ ein bemerkenswerter Artikel von Mitarbeitern des Bundeskanzleramtes zu lesen, der heute wie eine gruselige Persiflage klingt. Die Titelfrage lautete: „Babys – der Rente wegen?“ Der Tenor des Artikels: Wenn man Berechnungen über die Kosten der Kinderarmut oder sogar der zunehmenden Kinderlosigkeit aufstelle, dann sei das ein besonders schäbiger Aufguss menschenverachtender nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik. Der Artikel plädierte vielmehr dafür, gewollte Kinderlosigkeit zu begreifen als Ausdruck des modernen Lebensgefühls. Schließlich sei dadurch ein allmähliches Gesundschrumpfen der bundesrepublikanischen Bevölkerung zu erwarten. Hier führte wohl eine bestimmte Ideologie die Feder, aber auch offenkundige politische und ökonomische Torheit. Denn auch wenn manche Auswüchse des politisierten Kinderwunsches dazu führen, dass Politiker in Talkshows unverblümt mit der Enkelzahl prahlen, Ökonomen den Wert von Kindern mittels des Kindergeldes errechnen und manchmal sogar Sozialpolitiker im Blick auf die standfeste Rentenversicherung die Lufthoheit über die Schlafzimmer anstreben – eine Gesellschaft ohne Kinder ist bei Licht besehen eine sterbende Gesellschaft.

Wohlgemerkt: Eine Gesellschaft ist hier ausdrücklich gemeint, nicht ein Staat oder gar ein Nationalstaat bismarckianischer Prägung. Staaten kommen und gehen. Aber es geht um weit mehr: Es geht um das geglückte und erfüllende und Generationen umfassende Zusammenleben von Menschen in einer Gesellschaft, die nach dem Brudermord von Kain an Abel eben nicht mehr einfach von Natur aus zusammenlebt in unschuldiger Friedfertigkeit, sondern als Wolf dem Mitmenschen zum Wolf wird und daher der Ordnung und der Kultur bedarf. Es braucht jetzt einen festen Zustand der Gerechtigkeit: den Staat nämlich, der grundlegend jede menschliche Person behütet und beschützt und befördert und bildet. Von diesem Zustand der Gerechtigkeit hat der Staat seinen Namen und seine Berechtigung: Zustand des Rechts.

Und das allererste Recht eines jeden Menschen ist, so paradox sich das anhören mag, das Recht auf Liebe, nicht allein das Recht auf Leben. Leben allein ist ein erster verheißungsvoller Anfang, aber es reicht nicht, wenn es nicht geliebt und ersehnt und, ja: begehrt wird! Daher formuliert unser Grundgesetz in Artikel 6 bekanntlich: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Das heißt: Der Staat schützt und fördert durch seine Ordnung den Lebensraum eines jeden Menschen als Liebesraum. Denn niemand von uns gebiert sich ja selbst durch freien Entschluss, wie etwa der Sanddornstrauch sich selbst fortpflanzt. Nein, jeder wird geboren und verdankt sein Leben anderen Menschen. Und erlernt dort Liebe und Zuneigung.

Nur, wenn das geschieht, kann der Mensch solche Liebe später weitergeben und nur dann kann solche erfahrene Liebe als Solidarität zwischen den Generationen auch als Solidarversicherung organisiert werden. Ehe und Familie lehren Verzicht und Mühe, Verzeihung und Reue, Solidarität und Hilfe, Dankbarkeit und Zärtlichkeit, Treue und Freundschaft. Kein Mensch weiß sich geliebt vom Gesetz und dessen Gerechtigkeit, von Finanzämtern oder Verwaltungsgerichten oder Verkehrsampeln. All das ist kalte Gerechtigkeit. Wir alle aber brauchen die heiß ersehnte Liebe von Menschen. Und genau das stellt uns der gute Staat als beständige Hoffnung vor Augen: Dass Menschen einander nicht einfach nur respektieren, sondern einander Freunde sind!

Warum jubeln wir über den Sonntag?

Heute ist Samstag, in der jüdischen Tradition Sabbat, und morgen ist Sonntag, für Christen wie für Nichtchristen ein freier Tag, ein Festtag. Was steckt dahinter? Wer in Rom die große Basilika San Giovanni in Laterano betritt, der sieht im rechten Seitenschiff hoch oben an der Wand und leicht zu übersehen ein kleines Fresko des großen Malers Giotto. Man sieht einen Papst mit der Krone auf dem Balkon der alten Lateranbasilika, segnend. Es ist Papst Bonifaz VIII., der im Jahre 1300 das erste Heilige Jahr der Christenheit feierlich eröffnete. Seitdem werden solche Jubeljahre gefeiert. So ist es bis heute. Aber das Ziel war und ist natürlich nicht eine Belebung des römischen Geschäftslebens oder eine Ausweitung der Tourismusbranche. Das Ziel ist schlicht und einfach die Erinnerung an den Sonntag und an das, wofür jeder Sonntag steht: die Ewigkeit Gottes als Ziel des Menschen.

Der Sonntag stellt nämlich den Spannungsbogen der irdischen Pilgerschaft vor Augen: Der Christ versteht sich sowohl als Mensch des ersten wie auch des achten Tages, wie dies die frühen Kirchenväter ausdrücken, das heißt: Mensch aus Gott und unterwegs hin zu Gott. Der achte Tag ist eigentlich nur eine Idee, ein Tag mehr als die sieben Schöpfungstage und daher in unserer Welt nicht vorkommend und nur als Hoffnung vor dem inneren Auge: Der achte Tag steht für die Hoffnung auf Gelingen und Vollendung und ewige Liebe.

Daher sind die alten Taufkirchen immer achteckig gebaut: Das Achteck als Grundriss der noch nicht erreichten und doch schon in der Taufe begonnenen Ewigkeit. Der Sonntag, eigentlich der siebte Tag, ist zugleich auch dieser achte Tag: Der Tag der Auferstehung des Herrn und Tag der Neuschöpfung, die mit der Taufe beginnt. Weswegen bis heute vorzugsweise am Sonntag getauft wird.

Der biblische Schöpfungsbericht steht im Hintergrund: Gott erschafft nach biblischer Überlieferung die Welt im Sieben-Tage-Werk, am siebten und letzten Tag ruht er und genießt voll Freude sein Werk der Schöpfung von Welt und Mensch. Und daher ist das Ausruhen Gottes am siebten Tag kein Ausruhen in Erschöpfung, sondern ruhige Freude über das gelungene Werk. Jeder Sabbat war und ist nach jüdischem Verständnis ein Tag der Freude und der Freiheit, der zugleich auf die große Befreiung am Ende und in der Vollendung der Zeit hinweist. So stellt der Sabbat vor Augen: Welt und Mensch gehören nicht sich selbst, sondern letztlich Gott, dem Schöpfer. Der Mensch verwaltet die Welt und sein eigenes Leben im Auftrag Gottes: Daher formuliert unser Grundgesetz ganz feierlich und programmatisch in seiner Präambel: „In Verantwortung vor Gott und den Menschen gibt sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz!“

Deswegen gab es in der jüdischen Tradition nicht nur den Sabbat, sondern ebenso das Jobel-Jahr alle sieben Jahre, benannt nach dem Widderhorn, dem Jobel, mit dem solche Jahre feierlich verkündet und eröffnet wurden. Wie der Sabbat so stellte auch das Jobel-Jahr deutlich vor Augen: Der Mensch ist Sachwalter und Treuhänder Gottes. Daher endeten auch in den jüdischen Jobel-Jahren alle Pacht- und Besitzverhältnisse; alles fiel gleichsam zurück in die Hände Gottes, um zu zeigen: Niemals ist der Mensch Besitzer des Menschen. Alles auf Erden wurde auf den Punkt Null des Anfangs zurückgedreht; alle Entfremdung und Veräußerung wurde für beendet und aufgehoben erklärt. Und bis heute erinnert daran der Sonntag und sein Jubel: Am Anfang steht nicht die Leistung, sondern die Liebe Gottes zum Menschen. Und am Ende, im ewigen Sonntag, wird diese Liebe ohne Ende sein. Ein ausreichender Grund zu Jubel ohne Ende!

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