Den Blick auf die eingefahrene Ernte richten
Bei Viktor Frankl (1905-1997) habe ich lernen dürfen, welchen Unterschied es macht, ob ich eine erlittene Verlusterfahrung anschaue wie ein herbstliches Stoppelfeld, auf dem es nichts mehr zu ernten gibt, oder ob ich die Perspektive verändere und die Aufmerksamkeit auf die vollen Scheunen lenke, auf all das, was ich eingefahren und geborgen habe.
Oft habe ich in seelsorglichen Gesprächen erleben dürfen, wie sehr sich die ‚Gesprächstemperatur‘ verändert, wenn man einen trauernden Menschen ermuntert, doch einmal ausführlicher zu erzählen. Lauteres Interesse ist dann wichtig und Fragen wie: Wie war das eigentlich, als …? Woher habt Ihr die Kraft genommen für …? Wie war das genau, als Ihr diese Entscheidung getroffen habt? Was bedeutet es aus heutiger Sicht für Dich, dass Du all dies drin hast in Deinem Leben?
Solche und ähnliche Fragen ermöglichen es, das Wichtige und Wertvolle noch einmal neu anzuschauen und ins Wort zu bringen und es damit ganz zu sich und ins Innerste zu nehmen. Die Erinnerung entfaltet dann eine unglaubliche Kraft und das Herzblut wird spürbar, das durch die Adern dieses Menschenlebens geflossen ist. Manche Erfahrungen lassen sich erst aus der Rückschau richtig deuten. Und manches erschließt sich – dem Bild der vollen Scheunen folgend – erst im Nachhinein als guter Vorrat, als etwas, wovon man zehren kann. Und vielleicht will noch mache neue Saat erst jetzt wieder ausgebracht und zum Keimen und Reifen gebracht werden.