Vor 60 Jahren, am 8. Dezember 1965, endete das Zweite Vatikanische Konzil. Die Beschlüsse dieses Konzils haben die Kirche, wie wir sie heute kennen, tief geprägt. Die heilige Messe in deutscher Sprache, Räte und Gremien zur Mitbestimmung, eine größere Wertschätzung von Laien – all das fußt auf den Konstitutionen, Dekreten und Erklärungen des Zweiten Vatikanums. Die Rezeption des Konzils dauert noch immer an und bietet Stoff für theologische Auseinandersetzungen. Wie haben wir heute, 60 Jahre später, das Zweite Vatikanische Konzil und seine Beschlüsse zu verstehen? Dazu haben wir mit jemandem gesprochen, der den Abschluss des Konzils als Jugendlicher selbst miterlebt hat: Monsignore Prof. em. Dr. Meyer zu Schlochtern, emeritierter Professor für Fundamentaltheologie, vergleichende Religionswissenschaft und Konfessionskunde an der Theologischen Fakultät Paderborn.
„Die letzte authentische Selbstbeschreibung der Kirche“
Welche innerkirchliche Situation hat Papst Johannes XXIII. dazu bewegt, die Einberufung eines Konzils zu veranlassen? War diese zu diesem Zeitpunkt notwendig?
Von heute aus betrachtet, war es unbedingt notwendig. Vor dem Konzil bestimmten Tradition und feste Hierarchien das Leben der Kirche. Ihre Selbstdarstellung war vom Ersten Vatikanischen Konzil geprägt. Es gab Abwehrhaltungen gegenüber der modernen Welt bis hin zu antimodernistischen Haltungen. Dazu passte auch die Selbstdarstellung des Papsttums: Der Papst wurde mit der Tiara gekrönt, bei Audienzen wurde er auf einer Sänfte, der Sedia gestatoria, durch den Petersdom getragen. Das war noch ein Gepräge von früheren Jahrhunderten, auch wenn es sicherlich eindrucksvoll wirkte. Das zeigt: Es war notwendig, sich auf die Gegenwart einzulassen und sich für sie zu öffnen.
Viele sahen in Johannes XXIII. nur einen Papst des Übergangs und erwarteten kaum Veränderungen von ihm. Wie kam es, dass ausgerechnet er den großen Sprung wagte und ein allgemeines Konzil einberief?
Was Johannes XXIII. letztlich bewogen hat, ein Konzil einzuberufen, ist auch heute noch eine offene Frage. Viele beschreiben es als eine Art Augenblickseingebung. Andere meinen, dass sich diese Idee in seinen Predigten vorher schon ankündigt. Ich denke, dass er die Kirche ein Stück weit in die Gegenwart bringen wollte. Es wird überliefert, dass er bei einer Privataudienz einmal genau diese Frage beantworten sollte. Er soll daraufhin nichts gesagt haben, sondern sei zum Fenster gegangen und habe es geöffnet. Das sollte symbolisch zeigen, dass er frische Luft in die Kirche hereinlassen wollte. Er hatte keine klare Vision, die er dann methodisch Schritt für Schritt umgesetzt hätte. Er hat vielmehr diese Idee mitgeteilt und dann entstand während des Konzils allmählich eine Dynamik der Erneuerung.
Das Öffnen des Fensters oder „Aggiornamento“ sind heute vermutlich die bekanntesten Begriffe rund ums Konzil. Welche Bedeutung haben sie?
Das Aggiornamento ist ein zentraler Begriff für das Verständnis des Konzils und auch für das Verständnis seiner Rezeption. Es ist ein italienisches Wort und heißt wörtlich übersetzt: Verheutigung, etwas in die Gegenwart bringen. Genau das war zu dieser Zeit für die katholische Kirche notwendig, in der Moderne anzukommen und dort die Menschen zu erreichen.
Zur Person
Monsignore Prof. em. Dr. Josef Meyer zu Schlochtern wurde 1950 in Bad Laer bei Osnabrück geboren. Er studierte Theologie und Philosophie in Frankfurt, England, Münster und Regensburg, wo er 1978 promovierte. 1980 empfing er in Osnabrück die Priesterweihe. Nach seiner Habilitation an der Ruhr-Universität Bochum wurde er 1992 zum Lehrstuhlinhaber für Fundamentaltheologie, Vergleichende Religionswissenschaft und Konfessionskunde an der Theologischen Fakultät Paderborn ernannt, deren Rektor er mehrfach war. Seit 2020 ist er emeritiert.
Was waren die wichtigsten Beschlüsse des Konzils?
Die wichtigsten Ergebnisse des Konzils waren die vier Konstitutionen: Lumen gentium, über die Kirche, Gaudium et spes, die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. Hinzu kommen die so genannte Offenbarungskonstitution Dei verbum, die stärker aus der wissenschaftlich-theologischen Sicht zu betrachten ist sowie die Konstitution, die große Veränderungen in der Liturgie möglich machte, Sacrosantum Concilium. Zusätzlich erwähnen möchte ich auch die Erklärung Nostra aetate, über das Verhältnis der Kirche zu den nicht-christlichen Religionen, vor allem zu Judentum und Islam.
Welche Beschlüsse hatten die größten Auswirkungen auf die Gläubigen?
Am wirkmächtigsten für die allermeisten Katholikinnen und Katholiken war mit Sicherheit die Liturgiekonstitution. Die folgenden Jahre waren bestimmt von der Umsetzung ihrer Beschlüsse. Liturgien wurden in die jeweilige Volkssprache übertragen. Das bewirkte auch eine andere Rolle der Gemeinde in der Liturgie. Sie war nicht mehr nur Hörende, sie sollte, das wurde ausdrücklich gefordert, aktiv am Gottesdienst beteiligt sein. Unübersehbar die neue Position des Altars in fast allen Kirchen, obwohl dies kein zwingender Beschluss war. Es hat sich von selbst durchgesetzt, dass in fast allen Kirchen ein sogenannter Volksaltar näher an das Kirchenschiff und damit an die versammelte Gemeinde herangetragen wurde.
Sie erwähnten bereits, dass die Verfasstheit der Kirche vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil von Hierarchie und Tradition bestimmt war. Wie hat sich das Selbstbild der Kirche mit dem Konzil verändert?
Aus diesem Blickwinkel ist Lumen gentium wichtig. Vorher galt die Kirche als societas perfecta, als Institution, die sich selbst in allem genügt und nicht auf die moderne Welt angewiesen ist. Wichtig ist auch die innere kirchliche Verfassung. Das alte Modell sah die Kirche einseitig als hierarchische Ordnung: der Papst oben, die Bischöfe und ihre Diözesen, das Presbyterium der Priester und dann unten die Gläubigen. Der neue Ansatz nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war, diese verschiedenen Ebenen als Gemeinschaften zu verstehen. Der Papst in Gemeinschaft mit dem Bischofskollegium, der einzelne Ortsbischof gemeinsam mit seinem Presbyterium und ähnlich auch die Position des Pfarrers in der Gemeinde. Es ging darum, die Kirche als Communio zu verstehen, als eine Gemeinschaft, die ihre tiefste Wurzel im Mysterium der Menschwerdung Christi hat.
Die hierarchische Ordnung wurde also gelockert. Wie wurde dies in den folgenden Jahren umgesetzt?
Indem auf allen Ebenen ein pluraler Dialog etabliert wurde: Er findet im Bischofskollegium und in den Diözesen in den zahlreichen Räten statt: Priesterrat, Diözesanpastoralrat, die Pfarrgemeinderäte. Die Gläubigen, Priester und Bischöfe sind in einen Diskurs einbezogen, der letztlich das Leben der Kirche ausmacht. Für Deutschland muss hier die gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, die sogenannte Würzburger Synode, die von 1971 bis 1975 stattfand, erwähnt werden.
Sie sind 1950 geboren. Als das Konzil endete, waren Sie also ein Jugendlicher. Wie haben Sie diese Zeit persönlich erlebt?
Die früheste Erinnerung kommt aus der Grundschule. Die Lehrerin sagte, dass ganz Wichtiges in der Kirche passiert sei. Dann hat sie an die Tafel geschrieben „Zweites Allgemeines Vatikanische Konzil“, und wir hatten noch nie eine solch lange Überschrift gesehen. Wir haben später bemerkt, dass das Konzil unsere Religionslehrer sehr bewegte. Als das Konzil zu Ende ging, war ich schon älter. Wir konnten die Schlusssitzung im Fernsehen schauen und da ist mir nur in Erinnerung, wie groß die Konzilsaula war mit all den Bischöfen war. Ich war auch in der Jugendarbeit meiner Heimatgemeinde aktiv. Wir spürten deutlich, dass unsere damaligen Kapläne nahbar sein wollten. Sie wollten für uns, die Jugend der Gemeinde, ansprechbar sein. Die frühere Distanz, die Ansprache mit Hochwürden, das war alles vorbei. Das war auch eine Folgewirkung des Konzils.
Dann begannen Sie ein Studium in Theologie und Philosophie. Wie haben Sie die Zeit der unmittelbaren Konzilsrezeption mit all den Spannungen und Diskussionen an den Universitäten erlebt?
Im Studium erlebte ich die Positionen der verschiedenen Theologieprofessoren, die sich in Richtung des Konzils positionierten. Einige kritisierten die Sprache der Konzilsdokumente scharf als abgehoben und weltfremd. Andere wollten ganz dezidiert mit Blick auf die Beschlüsse des Konzils Theologie treiben. Später habe ich in Regensburg die Vorlesungen des damaligen Professors Joseph Ratzinger gehört. Ratzinger war sehr unzufrieden mit der Rezeption des Konzils. Er kritisierte, dass diejenigen, die Reform über Reform wollten, die Texte gar nicht wirklich verstanden hätten und ein Kirchenbild verfolgten, das dem Konzil gar nicht zu entnehmen sei. Ihm fehlten in der Rezeption Impulse zu einer neuen Spiritualität und empfand eine zu eifrige Annäherung der Reformer an den Zeitgeist. Allmählich kam auch die Absetzbewegung der sogenannten Piusbruderschaft auf. Auf der anderen Seite gab es Versuche wirklicher Erneuerung. Junge Geistliche versuchten durch die Gründung von Priestergemeinschaften neue Lebensformen zu etablieren. Heute, scheint mir, haben diese Gruppen wieder an Einfluss verloren. Es gab auch Kritik an der Zölibatsverpflichtung und an manchen Bischöfen aufgrund vermeintlich zögerlicher Umsetzung der Konzilsbeschlüsse. Man merkte also: Die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils bewirkte Auseinandersetzungen und Absetzbewegungen.
Sie haben drei Jahrzehnte als Theologieprofessor in Paderborn gewirkt. Welchen Stellenwert haben das Konzil und seine Texte für Sie als Lehrenden gehabt?
Für mich persönlich hat das Konzil einen hohen Stellenwert im Blick auf Theologie. Ich habe als Professor an der Fakultät meine Vorlesungen immer mit Blick auf das Konzil erarbeitet und gehalten. Zudem habe ich zu den Konstitutionen und Texten Seminare veranstaltet, etwa zur Erklärung zum Verhältnis der Kirche zu den christlichen Religionen, Nostra aetate. Für mich ist das es ein wichtiger Referenztext. Ich hatte das Bestreben, die Texte des Konzils den Studierenden als authentische kirchliche Selbstbeschreibung zu vermitteln, sodass sie dort eine Instanz finden, an der sie sich in ihrem eigenen theologischen Denken orientieren können. Das Konzil ist die letzte authentische Selbstbeschreibung der Kirche im Blick auf sich selbst und im Blick auf ihr Verhältnis zur Welt und ihrer Geschichte. Das heißt, wenn wir uns darüber verständigen wollen, was verbindlich in der Kirche gelten solle, dann ist das Zweite Vatikanische Konzil die Instanz, sich zu informieren.
Es wird oft berichtet, dass um das Zweite Vatikanische Konzil eine besondere Aufbruchsstimmung, ein besonderer Geist geweht hat. Wie haben Sie das erlebt?
Es ist schwer, das zu beschreiben, ohne massiv zu verallgemeinern. Vielleicht darf man sagen, dass die Menschen das Konzil damals begrüßt haben und die Beschlüsse und Erneuerungen als eine Form angesehen haben, in der sie ihren Glauben mit Zuversicht auch in der Welt von heute leben können. Das Bewusstsein, zur Kirche zu gehören, hatte ein anderes Gepräge als zuvor. Das Gefühl dazuzugehören, sich beteiligen zu dürfen und zu sollen war positiv. Unterstützt wurde dies von begleitenden Strömungen in der Gesellschaft. Damals herrschte ein allgemeiner Optimismus im Blick auf eine friedliche Zukunft der Menschheit, was auch in den Konzilsdokumenten zwischen den Zeilen zu entdecken ist. Auf der anderen Seite hat es nach dem Ende des Konzils in Deutschland innere Krisen gegeben: ein massiver Einbruch bei Berufungen, Priester sind in Scharen aus dem Amt ausgeschieden. Von daher stehen neben den Versuchen, das Konzil umzusetzen, auch Krisenmomente. Es war also kein Hurra-Aufbruch. Ich persönlich würde auch eher von einem neuen Horizont als einem neuen Geist sprechen, in dem die Konzilstexte gelesen und verstanden werden. Wenn dieser Horizont rückwärtsgewandt oder gar destruktiv ist, dann kommen natürlich andere Ergebnisse heraus, wie wenn man diesen mit positiven Erwartungen für die Kirche verknüpft.
Nun ist der Abschluss des Konzils 60 Jahre her. Die Welt um uns herum verändert sich aktuell schneller als jemals zuvor. Sind die Texte des Konzils nicht längst überholt?
Manches ist überholt. Aber es bleibt die Perspektive von Johannes XXIII.: Aggiornamento, die Zeichen der Zeit erkennen. Wenn wir voller Zuversicht die Konzilsdokumente in unsere Gegenwart übertragen wollen, dann können sie uns auch heute unsere Fragen beantworten. Die Lebenswelt, in der die Gläubigen heute ihren Glauben praktizieren, ist eine völlig andere als damals. Es wäre naiv, einfach jetzt in dieser unüberschaubaren Pluralität von Lebensperspektiven die Patentrezepte beim Zweiten Vatikanum entdecken zu wollen. Die Texte haben damals in der Verbindlichkeit eines Konzils den Glauben beschrieben. Sie wollten ihn für die Welt verständlich machen. Das gilt heute wie damals. Die Kirche muss ständig neu versuchen, zu sagen, warum sie an Christus als Erlöser glaubt, warum sie als seine Gemeinschaft leben will. Wenn sie dies tut, dann ist auch die Kirche von heute eine Kirche des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Was benötigt die Kirche, um heute die Zeichen der Zeit zu verstehen?
Ich glaube, dass ein kräftiger spiritueller Impuls zur Erneuerung der Kirche all die Strukturdebatten etwas erden und stärker an die Alltagswirklichkeit der Kirche zurückbinden würde. Es gibt solche Versuche auch in unserer Gegenwart: In der englischsprachigen Welt gibt es sogenanntes Church planting; in Jüngerschaften tun sich junge Leute zusammen, die sich ganz gezielt als Jünger Christi in der Gegenwart verstehen und das mit entsprechenden spirituellen Momenten verbinden. Insofern können die Zuversicht und der Optimismus, die der Geist des Konzils sind, auch in unserer Gegenwart etwas bewirken. Insofern versucht also die Kirche, im Sinne der praktischen Rezeption des Konzils neue Impulse zu setzen – nicht immer mit Erfolg, vielleicht auch nicht immer mit großem Geschick.
Braucht es ein Drittes Vatikanisches Konzil?
Gegenüber solchen Forderungen bin ich zurückhaltend. Wichtig ist, dass die gegebenen Möglichkeiten an synodaler Kommunikation auf der Ebene der Bischöfe, auf der Ebene der Diözesen und der Gemeinden wirklich praktiziert werden. Dass eine Atmosphäre wächst, in der sich unterschiedliche Strömungen zueinander in Beziehung setzen können, sich austauschen können, ohne dass es gleich dann zum Konflikt kommen muss. Das Konzil ist nicht schuld daran, dass der Kirche viele Menschen nicht mehr folgen oder dass die Priesterberufungen zurückgehen. Die Reformen haben Gutes erzeugt.