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Erzbistum Paderborn
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Das Hungertuch 2021/2022 zeigt einen abstrakt gezeichneten Fuß. Der Titel lautet: © Dieter Härtl / MISEREOR

Das Hungertuch - Fasten mit den Augen

Ein Hungertuch – was ist das überhaupt? Hier erfahren Sie alles über Ursprung und Bedeutung dieses alten Fastenbrauchs

Wer in der Fastenzeit in eine Kirche geht, sieht es meist schon von weitem: das Hungertuch. Es hängt über dem Altar oder im Chorraum – mal bunt und voller Figuren, mal auf abstrakte Formen und einzelne Farben reduziert. Es steht im Kontrast zum restlichen Kirchenraum, der in der Zeit von Aschermittwoch bis Ostern bewusst schmucklos gehalten wird. Was hat es damit auf sich?

Nun, was die modernen Hungertücher angeht: für die ist das kirchliche Hilfswerk Misereor verantwortlich. Jedes Jahr führt das Hilfswerk eine große Spendenaktion zur Fastenzeit durch. Und 1976 kam man auf die Idee, in besonderer Form darauf aufmerksam zu machen. Seitdem gestalten Künstlerinnen und Künstler aus Asien, Afrika und Lateinamerika alle zwei Jahre ein Hungertuch. Sie vermitteln ihren jeweiligen Blick auf die Schöpfungsbewahrung, Rechte der Frauen oder Gerechtigkeit – und bringen das mit dem christlichen Glauben zusammen. Thematisch sind die Misereor-Hungertücher also modern. Doch was das Tuch an sich angeht, greifen sie eine uralte Tradition auf.

 

Ursprung des Hungertuchs

Die ersten Hungertücher (lateinisch „velum quadragesimale“ genannt, was „Fastentuch“ bedeutet) kamen um das Jahr 1000 auf. Mit den heutigen Misereor-Tüchern hatten sie jedoch kaum etwas gemein. Statt farbenfroh und künstlerisch gestaltet, waren sie einheitlich leinenweiß, schwarz oder violett. Und sie waren größer als ihre modernen Pendants, viel größer: Sie reichten vom Boden bis ins spitzbogige Gewölbe und trennten den kompletten Chorraum blickdicht vom Rest der Kirche ab. In Kloster- und Kathedralkirchen hingen sie noch ein Stück weiter östlich, damit auch die im Chorgestühl sitzenden Ordensleute oder Kleriker den Altar nicht sehen konnten.

Warum hat man das gemacht? Der Grund liegt in der mittelalterlichen Bußpraxis. Zu der Zeit, als die Hungertücher entstanden, hatte sich die geheime Ohrenbeichte bereits durchgesetzt. Für besonders schwere Sünden wurde aber immer noch eine öffentliche Buße verordnet: Sünderinnen und Sünder mussten sich am Aschermittwoch öffentlich für schuldig bekennen und wurden vom Empfang der Kommunion oder gleich ganz vom Besuch der Messe ausgeschlossen. Am Gründonnerstag wurden sie – nach abgeleisteter Bußhandlung – wieder in die Gemeinschaft aufgenommen.

Herkunft der Redewendung „am Hungertuch nagen“

Wer am Hungertuch nagt, leidet Armut oder hat nicht genug zu essen. Die Redewendung, wie wir sie heute benutzen, geht tatsächlich auf die mittelalterlichen Hungertücher zurück. Aber sie hat nichts damit zu tun, dass besonders hungrige Menschen während der Fastenzeit angefangen hätten, die Tücher anzuknabbern. Die Hungertücher wurden früher oft kunstvoll bestickt, einzelne Stücke wurden aneinandergenäht. Die Bezeichnung „am Hungertuch nähen“ entstand. Aus „nähen“ wurde irgendwann – vielleicht durch einen Schreibfehler – „nagen“ und die Bedeutung des Ausdrucks wandelte sich entsprechend.

Von der Bußübung zur Armenbibel

Dieser Ausschluss vom Sakrament der Eucharistie wurde mit den Hungertüchern von der ganzen Gemeinde symbolisch übernommen. Es blieb den Menschen nichts anderes übrig, als die Messe – die hinter dem Vorhang stattfand – lauschend zu verfolgen. Ein Fasten mit den Augen. Und das war kein kleines Opfer. Denn damals war es nicht üblich, dass alle Gläubigen regelmäßig in der Messe die Kommunion empfingen. Stattdessen war das Schauen der Mysterien am Altar von zentraler Bedeutung – und das ging nun 40 Tage lang nicht.

Ab dem 12. Jahrhundert ändert sich das. Die christliche Kunst entdeckt das Potenzial der Hungertücher. Denn was sind große Leinentücher anderes als leere Leinwände? Und die gilt es zu füllen. Und zwar mit Motiven aus der Passionsgeschichte, Szenen aus dem Alten Testament, den Marterwerkzeugen Christi oder den Evangelistensymbolen Stier, Löwe, Mensch und Adler. Die künstlerische Erzählfreude überwiegt hier deutlich den Aspekt der Verhüllung. Das hatte aber auch seinen Zweck: Die Bilder auf den riesigen Leinwänden fungierten – ähnlich wie die Buntglasfenster der Kirchen – als „biblia pauperum“ („Bibel für die Armen“). Die Darstellungen verdeutlichten den Gläubigen, die nicht lesen oder schreiben konnten, zentrale Stellen der Heilsgeschichte. Man könnte sagen, sie waren eine Katechese aus Bildern.

Hungertuchwallfahrt

Das Misereor-Hungertuch hängt nicht nur in Kirchen – Pilgerinnen und Pilger führen es mit sich, wenn sie es vom Eröffnungsort der Fastenaktion des Vorjahres zu dem des aktuellen Jahres bringen. Das ist die Hungertuchwallfahrt. Im Erzbistum Paderborn pilgert außerdem alljährlich eine Hungertuchwallfahrt aus dem Dekanat Siegen zum jeweiligen Eröffnungsort. Auf ihrer Pilgerschaft kommen sie mit Menschen in Kontakt, werben für die Fastenaktion, beschäftigen sich in Gottesdiensten und Impulsen selbst mit dem Thema der Aktion. Höhe- und Schlusspunkt der Hungertuchwallfahrten ist der Eröffnungsgottesdienst der Misereor-Aktion.

Hungertücher in Westfalen

In Westfalen entwickelte sich seit der frühen Neuzeit ein ganz eigenes Zentrum der Hungertuch-Herstellung. Hier wurde nicht bemalt, sondern bestickt. Das Leinen blieb weiß und wurde so gewebt oder bearbeitet, dass man teilweise hindurchschauen konnte. Ums visuelle Fasten ging es daher nicht mehr. Denn seit dem frühen Barock wollte die Kirche allen Gläubigen das Geschehen am Altar sichtbar machen. Und die Hungertücher wurden dem angepasst: Sie wurden kleiner, höher aufgehängt oder eben durchscheinend, um den Blick auf den Altar auch in der Fastenzeit zuzulassen.

Am Mittwoch der Karwoche ließ man es während der Lesung herabfallen – dramaturgisch geschickt bei den Worten des Evangeliums: „Der Vorhang im Tempel riss mitten entzwei“ (Lk 23,45). Fest in die Dramaturgie der kirchlichen Feiern eingebunden, hielt sich der Brauch des Hungertuchs im Münsterland bis in die Gegenwart. Im Großen und Ganzen setzte mit der Reformation aber ein Rückgang der Hungertücher ein, auch in katholischen Gebieten. Sodass die Mehrheit der Kirchen hungertuchlos waren, als Misereor 1976 das erste zeitgenössische Hungertuch in Auftrag gab.

 

Verhüllen und Darstellen: zwei Wege, den Blick zu lenken

Die Misereor-Hungertücher hängen heute zur Fastenzeit in vielen Kirchen. Sie verhüllen nicht, tragen eher den Gedanken der bemalten Hungertücher weiter: Ihre Darstellungen lenken den Blick der Gläubigen in Europa auf die Anliegen der Weltkirche.

Eine Kirche in der in der Fastenzeit kein Hungertuch des Hilfswerks hängt ist die Kunst Station St. Peter in Köln, die Kirche der dort ansässigen Jesuiten. Dort werden alle Kunstwerke – vom Kreuz über die Renaissancefenster bis hin zum Altarbild aus der Hand Peter Paul Rubens – jedes Jahr zur Fastenzeit mit weißen Stoffbahnen eingepackt. Besuchende sind eingeladen, die Kirche in dieser visuell kargen Situation zu besuchen und Gewohntes ganz neu zu sehen.

„Was ist uns heilig?“ – Das Misereor-Hungertuch 2023/2024

Das Hungertuch für die Misereor-Fastenaktionen 2023/2024 gestaltete der Künstler Emeka Udemba. Er widmet sich dem Thema Schöpfung und damit der Klimaveränderung als zentraler Frage des Überlebens auf der Erde. Udembas farbenstarkes Bild ist als Collage aus vielen Schichten ausgerissener Zeitungsschnipsel, Kleber und Acryl aufgebaut: Nachrichten, Infos, Fakten, Fakes – Schicht um Schicht reißt und klebt der Künstler diese Fragmente und komponiert aus ihnen etwas Neues. Er versucht damit einen tieferen Einblick in die Art und Weise zu gewinnen, wie wir Menschen miteinander kommunizieren, wie wir über uns selbst und die Schöpfung sprechen, wie wir mitteilen, was für uns unantastbar oder heilig ist.

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