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Erzbistum Paderborn
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© Pitiya Phinjongsakundit / Shutterstock.com / erweitert mit KI

„Alles, was uns aus der Bahn wirft, kann uns in Armut bringen“

Auch im reichen Deutschland ist materielle Armut ein weit verbreitetes Phänomen. 14,1 Millionen Menschen in Deutschland sind von Armut betroffen. Ralf Nolte, Vorstandsmitglied im Diözesan-Caritasverband Paderborn und Diözesan-Caritasdirektor, erklärt im Interview die Ursachen der Armut und zeigt Auswege auf.

Redaktion

Herr Nolte, wie ist die aktuelle Lage bei der Armut in Deutschland?

Ralf Nolte

Seit dem zweiten Halbjahr 2023 geht die Inflation zurück. Das ist vermutlich die Ursache dafür, dass die Armut nicht weiter angestiegen ist. Im längerfristigen Trend aber nimmt die Armut in unserem Land stetig zu, auch Teile der Mittelschicht drohen zu verarmen. Und Armut ist hierzulande bereits weit verbreitet: 14,1 Millionen Menschen leben in Armut, jeder sechste Mensch in diesem Land ist also armutsbetroffen. In der Altersklasse zwischen 18 und 25 Jahren gilt sogar jeder vierte Mensch als arm. Die Kinderarmut ist zuletzt leicht gesunken, bei der Altersarmut sehen wir dafür eine Zunahme. Insgesamt ist die Armutssituation besorgniserregend. Auch wir im Diözesan-Caritasverband Paderborn erleben, wie Armut voranschreitet und sich verschärft.

Insgesamt ist die
Armutssituation
besorgniserregend.

Ralf Nolte, Diözesan-Caritasdirektor

Wie macht sich diese Verschärfung der Armut konkret bemerkbar?

Die Bahnhofsmission in Paderborn etwa hat sich früher im Schwerpunkt um Obdach- und Wohnungslose gekümmert. Inzwischen kommen aber auch Studierende oder ältere Menschen hierher, weil sie etwas zu essen bekommen, weil sie dort satt werden.

Woran liegt das?

Es liegt daran, dass die Tafeln, Sozialkaufhäuser und Warenkörbe überlastet sind. Teilweise gibt es zu wenige Lebensmittelspenden, teilweise zu wenige Ehrenamtliche in der Verteilung. Daher haben die Einrichtungen vielfach den Zugang beschränkt, indem sie weniger häufig geöffnet haben oder Bezugsscheine ausgeben. Die armen Menschen können sich nicht mehr wöchentlich oder im 14-Tages-Rhythmus bei der Tafel mit Lebensmitteln eindecken, sondern dort vielleicht nur noch einmal im Monat einkaufen. Der Ausweg für diese Menschen ist der Weg zur Bahnhofsmission oder zu anderen Hilfsangeboten.

Was lässt sich gegen diese Armut tun?

Als Soforthilfe brauchen wir Einrichtungen wie Tafeln, Sozialkaufhäuser, Warenkörbe und die Bahnhofsmission, wir brauchen Spenden und ehrenamtliches Engagement. Das ist eine pure Notwendigkeit, aber auf Dauer keine Lösung. Es besteht sogar die Gefahr, dass sich dank dieser Hilfseinrichtungen die Armutsstrukturen verfestigen. Haben wir mit den Tafeln die Menschen mit Lebensmitteln versorgt, sieht die Politik keinen Anlass mehr, gegen den Hunger vorzugehen. Das ist aber der verkehrte Weg. Wenn wir als Gesellschaft Armut wirkungsvoll bekämpfen wollen, müssen wir bei den Ursachen ansetzen.

Was sind die größten Risikofaktoren, die Menschen in die Armut abrutschen lassen?

Es gibt sehr viele dieser Risikofaktoren. Besonders groß ist das Armutsrisiko alleinerziehender Mütter. Das liegt auch an den mangelnden Betreuungsangeboten für die Kinder, wo Kita-Plätze fehlen, können Mütter nicht in die Erwerbsarbeit zurückkehren. Aus demselben Grund stellt auch der Kinderreichtum ein Armutsrisiko dar: Die Lebenshaltungskosten kinderreicher Familien sind ohnehin schon hoch und wenn die Mutter wegen der fehlenden Betreuung keine Arbeit annehmen kann, wird es für die Familie finanziell noch enger. Erwerbslosigkeit ist generell ein starkes Armutsrisiko, wie auch eine niedrige Formalbildung, die es nicht erlaubt, eine besser bezahlte Arbeit zu finden. Das macht sich vor allem im Alter bemerkbar. Während der Zeit der Erwerbstätigkeit reicht das Geld noch irgendwie zum Leben, aber die kleine Rente genügt eben nicht mehr. Auch unbezahlte Care-Arbeit, etwa die Pflege von Angehörigen, kann in die Armut führen. Dazu kommen noch individuelle, aus der Biografie resultierende Armutsfaktoren: Krankheit, auch psychische Erkrankungen oder Suchtkrankheit, Behinderung oder ein Schicksalsschlag. Alles, was uns aus der Bahn wirft, kann uns in Armut bringen.

Besonders groß ist
das Armutsrisiko
alleinerziehender Mütter.

Ralf Nolte

Wenn die Armutsfaktoren so vielschichtig sind: Wie wollen Sie Armut wirkungsvoll bekämpfen?

Armut ist ein gesellschaftlicher Missstand, der wie jedes gesellschaftliche Problem auf politischem Weg angegangen werden muss. Hier ist vor allem unser Spitzenverband, die Caritas auf Bundesebene, gefordert. Aber auch wir als Diözesan-Caritasverband Paderborn bringen uns als Sozialverband in sozialpolitische Debatten auf Landesebene ein und adressieren Botschaften an die Politik.

Daneben haben wir auf einer zweiten Ebene Beratungsangebote wie die allgemeine Sozialberatung, die Pflegeberatung, die Schuldner- und die Suchtberatung geschaffen. Auf dieser mittleren Ebene setzen wir zusätzlich zentral gesteuerte Projekte um. Zum Beispiel haben wir in der Phase der massiv gestiegenen Energiekosten Kirchensteuermittel dafür eingesetzt, dass Bedürftige ihre Strom- und Gasrechnung bezahlen konnten. Ein anderes Projekt ist der Stromspar-Check, mit dem arme Menschen ihren Energieverbrauch senken können. Die Verhaltenskomponente ist dabei nur ein Teil der Maßnahmen. Verbesserungen lassen sich oft nur durch den Austausch von alten energiefressenden Geräten herbeiführen. Auch dafür stellen wir Mittel zur Verfügung.

Und auf der dritten Ebene unterstützen wir die ehrenamtliche Arbeit in den Caritas-Konferenzen vor Ort. Mit dieser Vorgehensweise auf drei Ebenen decken wir von der Forderung gegenüber der Sozialpolitik bis zur Beihilfe für eine neue Waschmaschine alle Handlungsfelder ab.

Welchen Stellenwert hat die Armutsbekämpfung für den Diözesan-Caritasverband Paderborn?

Einen sehr hohen. Armutsbekämpfung ist eine Querschnittsaufgabe, die alle Handlungsfelder unseres Diözesan-Caritasverbands durchzieht. Wir haben deshalb zu Beginn des Jahres das Fokus-Team „Armut“ gegründet, das die Aufgabe hat, das Thema Armutssensibilität in allen Fachbereichen zu verankern.

Ihnen ist das Thema Armut offenbar wichtig. Wie relevant ist die Armut aber im öffentlichen Diskurs und in der Politik?

Zunächst ist es ein Fortschritt, dass in unserer Gesellschaft nun offen über Armut gesprochen wird und arme Menschen nicht mehr ausweichend als „sozial schwach“ dargestellt werden, als ob sie schwache Sozialbeziehungen oder mangelnde Sozialkompetenzen hätten. In der Politik habe ich den Eindruck, dass das Thema Armut niemand so recht anfassen möchte. Im Gegenteil: Nach wie vor resultiert das höchste Steueraufkommen natürlich von Menschen mit hohem Einkommen. Aber die Politik hat es zugelassen, dass sich die Reichen und Wohlhabenden vielfach aus der Verantwortung für die Gesellschaft herausziehen konnten. Das ist das Kernproblem und nicht etwa die 10.000 oder 16.000 sogenannten Totalverweigerer, die Bürgergeld beziehen, ohne sich ins Erwerbsleben integrieren zu wollen. Ich frage mich viel mehr, ob diese Menschen das überhaupt können. Um Armut wirksam zu bekämpfen, brauchen wir jedenfalls keine Scheindebatten in den Talkshows, sondern eine Solidargemeinschaft, an der alle mitwirken.

Die Politik hat es zugelassen, dass sich die Reichen und Wohlhabenden vielfach aus der Verantwortung für die Gesellschaft herausziehen konnten.

Ralf Nolte

Sind Sie zuversichtlich, dass das gelingt?

Ich bin optimistisch, trotz aller Widerstände, weil ich täglich in meinem Umfeld Caritas erlebe, wie viele Menschen sich positiv für unsere Gesellschaft einbringen.

Was unterscheidet die Caritas von anderen Trägern der Wohlfahrtspflege?

Weniges und ganz vieles zugleich. Zum Glück sprechen wir als Caritas gemeinsam mit den anderen Wohlfahrtsverbänden gegenüber der Politik mit einer Stimme. Auf diese Weise verschaffen wir uns Gehör. Dann bin ich überzeugt, dass alle Akteure der Wohlfahrtspflege sich wie wir mit ihrer ganzen Kraft für das Gute einsetzen. Das sind also die Gemeinsamkeiten. Bei uns als kirchlichem Wohlfahrtsverband kommt aber noch etwas hinzu, das ich als unsere katholische Grundfärbung bezeichnen möchte. Unser Auftrag kommt aus den Evangelien, von Gott selbst. Das erzeugt eine ganz besondere Motivation. Unser Glaube erklärt für mich auch die Zuversicht, mit der wir unsere Aufgaben angehen, die für viele als unlösbar gelten.

Unser Glaube erklärt für mich auch die Zuversicht, mit der wir unsere Aufgaben angehen, die für viele als unlösbar gelten.

Ralf Nolte

Wir haben viel über materielle Armut gesprochen. Ist die emotionale Armut ebenfalls ein Thema für die Caritas im Erzbistum Paderborn?

Natürlich. Emotionale Armut findet sich in allen Gesellschaftsschichten und Milieus. Signifikant häufig geht sie aber mit materieller Armut einher. Ein Schulkind, das aus Cliquen ausgeschlossen wird, weil daheim das Geld fehlt, ist materiell und emotional arm. Ein älterer Mensch, der kein Geld für die Fahrt mit dem Bus in die Stadt hat, kann dort nicht seine Freunde treffen, sondern wird einsam vor dem Fernseher sitzen. Ich sprach vorhin von der Solidargemeinschaft, die uns aus der Armut führt. Das gilt gleichermaßen für die materielle Armut wie für die emotionale Armut.

Ein Glücklich(t) gegen die Armut werden

Das Interview mit Caritas-Direktor Ralf Nolte haben wir im Rahmen unserer Mitmachaktion „Glücklich(t) sein“ geführt. Mit der Aktion lädt das Erzbistum dazu ein, aufmerksam für die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ der Menschen zu werden und durch kleine Gesten oder großes Engagement ins Handeln zu bekommen: durch ein freundliches Lächeln, Zeit für ein Gespräch oder ganz konkrete Hilfe, um Nöte und Sorgen zu bekämpfen.

Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz: „Die Mitmachaktion soll zu einem Symbol dafür werden, dass wir gerade in der dunklen Jahreszeit die schwächeren Mitglieder unserer Gemeinschaft nicht vergessen. Dass wir sie in unsere Mitte nehmen und etwas Licht in ihren Alltag bringen. GLÜCKLICHT/T SEIN tut uns allen gut, weil wir erleben, dass Gott mit seiner Liebe ganz praktisch durch uns wirkt.“

Ein Beitrag von:
© Jürgen Hinterleithner
freier Autor

Hans Pöllmann

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