Narrative unerfüllter Sehnsucht
„Nie wieder Krieg“: So erfolgreich das Gründungsnarrativ zum Aufbau supranationaler politischer Strukturen in Europa beigetragen hat, auf der Basis gemeinsamer Grundrechte und Grundwerte: In Zeiten politischen Stabilität und wirtschaftlichen Prosperität verblasst der Wert der Friedensdividende und die Bereitschaft zur „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas […], in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden“ (Lissaboner Vertrag, Art 1). An die Stelle gemeinsamen solidarischen Handelns treten schleichend Kosten-Nutzen-Überlegungen einzelner Mitgliedstaaten („I want my money back“) – bis hin zum ökonomistisch und nationalistisch motivierten Austritt. Die bittere Erkenntnis: In Friedenszeiten wächst Eigennutz.
„Wir sind das Volk“: Was auf den Straßen Ostdeutschlands selbstbewusst-trotzig eingefordert wurde: wie Wiederherstellung der nationalen Einheit, lässt im Nachhinein Zweifel aufkommen, ob die Sehnsucht nach dem großen WIR im Letzten wirklich gewollt ist oder nicht doch mit einem Verlust an Identität bezahlt wird. Denn die Bereitschaft, über Jahrzehnte finanzielle Opfer für die Gleichstellung der Lebensverhältnisse in Ost und West zu erbringen, nimmt mit der Zeit ab, und den desillusionierten und enttäuschten Freiheitskämpfern von einst und den „Zurückgebliebenen“ in den Transformationsgebieten bleibt das schale Gefühl der Zu-kurz-Gekommenen, der lästigen armen Verwandtschaft, die sich am Katzentisch des prosperierenden Westens mit den Brotkrumen sozialer Wohltaten (sprich Transferleistungen) zufrieden geben muss. Die Abstimmung mit den Füßen, sprich der Wegzug der Jungen und Gebildeten, die Ausbildung und Arbeit, aber auch bessere Lebensverhältnisse im Westen suchen und finden, die Entvölkerung ganzer Städte und die Verödung vermeintlich blühender Landschaften, auch die demütigende Alimentierung des Ostens durch den Westen, führt am Ende zu Nostalgie und Resignation, zu Protest und Demokratieverlust. Die bittere Erkenntnis: Mit der Zielerreichung wachsen die Ansprüche.
Willkommenskultur war gestern
„Willkommenskultur“ war gestern. Gefühle erkalten, Begeisterung schwindet, Stimmungen können kippen. Da genügt ein singuläres Ereignis von hoher Symbolkraft, wie es die Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof in der Silversternacht 2016 waren, und ein ganzes Land geht urplötzlich auf Abstand. So hat sich die euphorische Stimmung des Willkommens, medial inszeniert und politisch instrumentalisiert, alsbald verflüchtigt und ist einer Stimmung fortgesetzter Mäkeleien gewichen, die sich in Pegida-Märschen und populistisch-nationalistischen Hetzparolen Bahn bricht. „Solange die Etablierten [die „Biodeutschen“, die alten Bundesländer, Westeuropa …, Anm. d. Verf.] die Außenseiter nur pädagogisch behandeln können, indem sie Unterstützung fürs Nachlernen und Aufholen anbieten, fügt sich nichts –, und solange die Außenseiter die Etablierten damit reizen, dass sie immer mehr fordern und zugleich immer weniger erwarten, fügt sich erst recht nichts. Es breitet sich nur die Stimmung einer wechselseitigen Stornierung von Energien und des wechselseitigen Verpassens von Begegnungen aus.“[2] Auch hier die bittere Erkenntnis: Mit der Ankunft der Fremden wachsen Abgrenzung und Abneigung.
Denkweisen aus Ost und West
„Alle Menschen werden Brüder“: Was so einleuchtend und selbsterklärend klingt, kommt alsbald an sein Ende, wenn „Brüder“ miteinander auskommen müssen. Das gilt auch innerhalb der Europäischen Union, die nur mühsam die fortbestehende Spaltung des Kontinents überdeckt. Während die Transformationsländer im Bemühen um Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung die Respektierung der eigenen nationalen, religiösen, kulturellen Identität von den etablierten Ländern der Union erwarten und entsprechende Solidarität und Integrationsleistungen beanspruchen, vergiftet das Migrationsthema zusätzlich das Klima.[3] Da verwundert es nicht, dass in Zeiten von Globalisierung und weltweiten Wanderungsbewegungen Ängste geschürt und fremdenfeindliche Stimmungen entfacht werden. Diese sind im pluralitätserfahrenen Westeuropa allerdings anders konnotiert und motiviert als in den postkommunistischen Ländern. Ivan Krastev, Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia: „Die Frage, die man sich im Westen stellt, ist, wie man mit einer multikulturellen Gesellschaft am besten umgeht. Im Osten will man verhindern, dass eine multikulturelle Gesellschaft entsteht.“[4] Seine Analyse der unterschiedlichen Bedrohungsszenarien lässt die je verschiedene Motivlage nationalistischer und populistischer Propaganda in Ost und West besser verstehen. „Im Westen geht es nun darum, dass die politischen und ethnischen Mehrheiten befürchten, dass sie nicht genug politische Macht haben werden, um ihre kulturelle Hegemonie bewahren zu können. Deshalb rückt die Frage der kulturellen Identität im politischen Diskurs in den Vordergrund. In Osteuropa ist das Problem ein völlig anderes. Ganze Landstriche sind durch Emigration in den Westen entvölkert.“[5] Da ist es mit der „Ode an die Freude“ schnell vorbei.