Zeit vergeht unterschiedlich schnell, je nachdem, was man gerade erlebt. Wenn es so ganz schön ist, dann möchte ich die Zeit anhalten. So könnte es jetzt bleiben, denke ich und weiß doch genau: Es bleibt nicht so. Ein anderes Mal scheint die Zeit von selber stillzustehen. Beim Tod eines Freundes ist mir das so gegangen. Seltsamerweise drehte sich die Welt weiter, auch die Zeiger der Uhr, nur ich kam mir vor wie stehengeblieben, irgendwie aus der Zeit gefallen.
Zeit scheint etwas ganz Subjektives zu sein. Und auch wieder nicht. Denn wir haben ja alle denselben Kalender und die Uhr schlägt für alle im selben Takt. Meister Secundus Minutius Hora, der geheimnisvolle Verwalter der Zeit im Klassiker von Michael Ende, erklärt der kleinen Momo:
„Es gibt Kalender und Uhren, um die Zeit zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.“
(Michael Ende, Momo, Thienemann, 16. Auflage, S. 57)
Was ist die Zeit? „Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen“, weiß Meister Hora im Roman Momo über die Geheimnisse der Zeit. Dazu gehört auch, dass wir sie einteilen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und wir Menschen können sogar in den Zeiten wandern, im Gestern, im Heute und im Morgen. Wenn ich heute mit dem Fahrrad unterwegs bin, dann sehe ich mich selbst als die kleine Bärbel oder besser gesagt: Ich spüre wieder, wie es sich anfühlte, als ich damals mit 9 Jahren mein erstes Fahrrad geschenkt bekam. Eiskalt war’s am Weihnachtsmorgen und trotzdem konnte mich nichts davon abhalten, mit meinem neuen roten Fahrrad loszufahren. Das Glück spüre ich heute noch und fühle mich gerade beim Fahrradfahren quicklebendig. Und dann erschrecke ich fast, wenn ich in den Spiegel schaue. Denn da sehe ich deutlich die Spuren der inzwischen fast 60 Jahre meines Lebens. In meiner Vorstellung fühle ich mich jünger. Ob das wohl daran liegt, dass alles noch da ist in meinem Herzen, weil ich alle Lebensphasen noch in mir habe?
Das kenne ich aus Gesprächen mit älteren Leuten. Wenn sie erzählen, bewegt mich das in meinem Berufsalltag als Gemeindereferentin. Da wird erzählt von den vielen prägenden Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend, Frohes, aber auch das Leidvolle – Krieg und Entbehrungen – die lebhaften Erinnerungen an die erste Liebe, die Hochzeit, an die Jahre, als die Kinder klein waren. Und jetzt sind schon die Enkelkinder groß. Wo ist die Zeit geblieben? So fragen viele ältere Leute, staunend darüber, wie lange manches schon her und doch noch da ist.
Ebenso bewegt es mich, wenn Kinder sich mit leuchtenden Augen ihre Zukunft ausmalen, sich selbst sehen als Astronaut oder Prima Ballerina. Kinder haben im eigenen Erleben so unvorstellbar viel Zeit vor sich, dass die Zeit noch kein Thema für sie ist. Zum Thema wird sie wohl erst dann, wenn ein Mensch anfängt, sich seine Lebenszeit wie eine Linie vorzustellen, auf der ein Punkt den Standort von heute zwischen Vergangenheit und Zukunft markiert, zwischen Geburt und Tod. Das stelle ich mir auch manchmal so vor und je älter ich werde, desto mehr wandert dieser Punkt ja Richtung Ende der Linie. Da kann es passieren, dass ich in Stress gerate und damit genau in den Strudel der Zeitagenten aus Michael Endes Roman. Denn dann messe ich mein Leben vor allem daran, wie die Jahre vergehen, wie viel kostbare Zeit mir permanent abgezogen wird von meinem Lebenszeitkonto. Und ich frage mich, wie viel mir wohl noch bleibt.
Bereits im 17. Jahrhundert schreibt Andreas Gryphius ein Gedicht mit dem Titel: „Betrachtung der Zeit“. Es scheint mir wie ein zeitlos gültiger Hinweis:
„Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
der Augenblick ist mein, und nehm‘ ich den in Acht,
so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.“
(Andreas Gryphius, Betrachtung der Zeit, in: Quint Buchholz, Vom Glück der Langsamkeit, S. 21)